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NIEDERRHEIN. Man kann sich beschränken. Man kann die Geschichte erzählen von einem, der morgens als Lebenslänglicher ins Gericht gebracht und abends erst einmal nach Hause gehen wird. Erzählt man diese Geschichte, schließt man die Augen vor einer anderen.

Die andere Geschichte

Es ist die Geschichte der Angehörigen, Freunde und Bekannten einer Mutter von zwei Kindern. Sie werden das neue Urteil mindestens ratlos zur Kenntnis nehmen. Der Tod zerstört meist nicht nur das Leben des Opfers – er reißt ganze Familien aus der Bahn und lässt sie oft jahre- oder jahrzehntelang nicht mehr zur Ruhe kommen. Bis zu ihrem eigenen Tod werden die Freunde und Angehörige mit der Tat konfrontiert. Niemals können sie sich von ihr befreien. Dass ein Täter irgendwann auf freien Fuß kommt und sein Leben weiterführt, ist für sie schwer nachzuvollziehen.

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Ein Urteil in einem Prozess zu fällen, bei dem infolge eines (sinnlosen) Autorennens ein Mensch stirbt, ist eine Form der Synchronisation von Fakten und Empfindungen, die kaum machbar, wenn nicht gar unmöglich erscheint. Aber vor Gericht gibt es – in einem solchen Fall – kein Unentschieden. Am Ende muss ein Urteil gefällt werden und aus einem Für auf der einen Seite wird immer ein Wider für die anderen. Urteile haben viele Dimensionen. Urteile sind nicht nur Endpunkt eines prozessualen Geschehens. Sie sind Signale. Botschaften. Urteile reagieren auf mehr oder weniger komplexe Tatabläufe. Urteile sind immer auch der Versuch, einen Rechtsfrieden herzustellen. Aber: Hier ist das Recht – und da sind die Seelen. Das Recht urteilt möglichst ohne Ansehen der Person. Justizia trägt eine Augenbinde. Recht gilt für jeden von uns in gleicher Weise. In der Angleichung liegt aber immer auch ein Stück Verleugnung. Justizia ist blind. Und sachlich. Justizia soll Distanz halten. Befangenheit – im Positiven wie im Negativen – ist ein schlechter Ratgeber.
Manche Geschichten brauchen einen Vorspann. Er grundiert die Wahrnehmung. So oder so. Journalismus, heißt es, sei objektiv. Das ist ein Märchen. Gemeint ist ein Idealzustand, der dem der Gerichtsbarkeit ähnlich ist.

Facetten

Es ist der Abend des 22. April 2019 – Ostermontag. Es ist kurz vor 22 Uhr. In Moers ist die Sonne um 20.41 untergegangen. Frau A. ist mit ihrem Hund unterwegs. Sie bückt sich zu ihrem Hund und spürt, dass über ihrem Kopf etwas durch die Luft fliegt. Es ist das Reserverad eines Citroen Saxo. Über 100 Meter ist es durch die Luft geflogen und hätte Frau A. sich nicht gebückt, wäre sie ziemlich sicher getroffen worden – entweder am Kopf oder am Oberkörper. Nicht auszudenken. Frau A. hat Glück gehabt.Es ist der Abend des 22. April 2019, kurz vor 22 Uhr. Vier junge Männer sind zu Fuß zu einem Schnellrestaurant unterwegs, als ihnen zwei Fahrzeuge auffallen: ein Mercedes AMG und ein Range Rover. Der Mercedes fährt neben dem Range Rover – auf der Fahrspur des Gegenverkehrs. Die Fahrzeuge beschleunigen. Die jungen Männer schauen den Autos hinterher.
Es ist der Abend des 22. April 2019. Ein Mann ist mit dem Rad unterwegs. Ihm fallen zwei Fahrzeuge auf, die mit hoher Geschwindigkeit nebeneinanderher fahren. Er dreht sich um, fährt dann weiter und hört kurz darauf einen Knall.

Zerstört

Es ist der Abend des 22. April 2019. Frau B. ist mit ihrem Citroen Saxo unterwegs. Sie ist nicht angeschnallt. Sie biegt an einer Kreuzung nach links auf eine übergeordnete Straße ein. Es ist die Straße, auf der gerade ein Rennen ausgetragen wird: Mercedes vs. Range Rover. Der Mercedes prallt mit einer Geschwindigkeit von 105 Stundenkilometern auf das Heck des Citroen. Der Aufprall ist so heftig, dass B. aus ihrem Fahrzeug geschleudert wird. Das Reserverad im Kofferraum des Citroen wird aus der Halterung gerissen und fliegt 100 Meter durch die Luft – vorbei am Kopf von Frau A. – und prallt zuletzt gegen ein Garagentor. Die Straße, auf der sich der Unfall ereignet, führt durch ein Wohngebiet. Zulässige Höchstgeschwindigkeit: 50 Stundenkilometer.

Countdown

Zwei Sekunden vor dem Zusammenprall hat der Mercedes eine Geschwindigkeit von 157 Sundenkilometern erreicht. 1,5 Sekunden vor dem Aufprall sind es 167 Stundenkilometer. 0,55 Sekunden vor dem Aufprall – der Fahrer hat eine Notbremsung eingeleitet und ein Ausweichmanöver versucht – beträgt die Geschwindigkeit des Mercedes 128 Stundenkilometer. Im Moment des Aufpralls auf das Heck des Citroen hat der Mercedes eine Geschwindigkeit von 105 Stundenkilometern. Der Citroen ist mit einer Geschwindigkeit von circa 20 Stundenkilometern unterwegs.
Der Anstoß des nach Leergewicht mehr als doppelt so schweren Mercedes gegen den Citroen ist trotz vorherigen Bremsens so gewaltig, dass die Karosseriestruktur des Citroen massiv verformt wird. Heckbereich und Rückfahrbank werden nach vorne Richtung Front verschoben. Die Fahrgasttüren hinten links und rechts sind massiv gestaucht und werden aufgerissen.
Frau B. erleidet beim Anprall massivste Verletzungen des Brustkorbs. Ihre hinteren Rippen werden von der Wirbelsäule gesprengt und perforieren den Brustkorb. Frau B. wird aus ihrem Auto geschleudert, prallt während des „Fluges” mit dem Kopf gegen den Außenspiegel eines am Straßenrand stehenden A4. Der Spiegel wird beim Anprall abgerissen. „Diese Verletzung hätte nicht zum Tod geführt“, sagt eine Gerichtsmedizinerin aus.

Vier Minuten

Trotzdem wird Frau B. den Unfall nicht überleben. Aufgrund eines massiven Blutverlusts wird die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn für mehr als vier Minuten unterbrochen. Das Gehirn reagiert mit einer massiven Schwellung. Im Krankenhaus wird man B.s Schädeldecke öffnen, um der Schwellung des Gehirns entgegenzuwirken. Trotz intensivster Behandlung stirbt B. 40 Stunden nach dem Unfall im Krankenhaus an einem „zentralen Regulationsversagen” (Hirnversagen) von Kleinhirn und Hirnstamm. X., der Fahrer des Mercedes, besitzt keinen Führerschein. Frau A. steht ihm kurz nach dem Unfall gegenüber. X. entfernt sich vom Unfallort. Das Ende eines Rennens.

Zwei Urteile

Ist X. ein Mörder? Ja hat die 4. große Strafkammer des Klever Landgerichts am 17. Februar 2020 geurteilt. Die Schlagworte: Tötungsvorsatz bei verbotenem Kraftfahrzeugrennen; verbotenes Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge; Mordmerkmal gemeingefährliches Mittel. Das Urteil mit dem Aktenzeichen 140 Ks – 507 Js 281/19-6/19 ist in der NRW Rechtsprechungsdatenbank der Gerichte in Nordrhein-Westfalen (www.nrw.de) einsehbar. Es umfasst 29 Seiten. Der Angeklagte geht in Revision.

Teilweise aufgehoben

Pressemitteilung des Landgerichts vom 19. März 2021: Durch Beschluss des BGH [Bundesgerichtshof] vom 18. Februar 2021 (4 StR 266/20) wurde das Urteil des Landgerichts Kleve (Schwurgericht) vom 17. Februar 2020 teilweise aufgehoben und die Sache insoweit zur erneuten Verhandlung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Ein neues Urteil

Jetzt wurde der Fall neu verhandelt und endete mit einem Urteil, dessen Begründung nachvollziehbar, dessen Ausmaß allerdings ein taubes Gefühl hinterlässt: Der Angeklagte wurde wegen Teilnahme an einem verbotenen Kraftfahrzeugrennen mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Zudem setzte die Kammer den bestehenden Haftbefehl außer Vollzug, da – so der Vorsitzende – „das Verfahren bis zu diesem Zeitpunkt sehr lange gedauert hat und wir keine Fluchtgefahr sehen.“ Ein weises Urteil? Wer will das sagen, denn auch was „weise“ ist, wird nicht vom Intellekt allein bestimmt.

Geschmacklos

Der Urteilsspruch wurde vom Anhang des Angeklagten mit Applaus und lauten Bravo-Rufen kommentiert – eine irgendwie unverzeihliche Geschmacklosigkeit den Angehörigen des Opfers gegenüber. Man kann die Erleichterung nachvollziehen, nicht aber das stadionhafte Gebaren.

Innere Tatsachen

Warum nun vier Jahre statt lebenslänglich? Es gehe – so der Vorsitzende – bei der Einordnung des Geschehens im Wesentlichen um zwei Elemente. Da sei zum einen das Wissenselement. Wer sich auf ein solches Rennen einlasse, dem müsse klar sein, dass Schlimmes passieren könne. Bei der Beurteilung des Willens-Elementes gehe es unter anderem um ‚innere Tatsachen‘. „Wir können aber nicht in den Kopf des Angeklagten schauen. Wir können nicht feststellen, was er gedacht hat.“ Hier erwies sich die Strategie der Verteidigung, den Angeklagten zur Sache nichts aussagen zu lassen, als zweckdienlich im Sinne des Mandanten. „Der Angeklagte hat uns nichts gesagt. Wir waren also darauf angewiesen, von äußeren Umständen auf innere Zustände zu schließen.“

Viele offene Fragen

In der Gesamtschau und bei der Abwägung von Pro und Contra seien viele Fragen offen geblieben. Die Kammer sei zu der Überzeugung gelangt, dass dem Angeklagten das Leben anderer Menschen nicht gleichgültig sei. X. besaß keinen Führerschein. Aufgrund fehlender Fahrpraxis und „eingeschränkter intellektueller Möglichkeiten“ sei er nicht in der Lage gewesen, die Folgen seines Handelns einzuschätzen.

Demonstration

Es habe sich um eine Machtdemonstration unter Freunden gehandelt. Der Angeklagte habe nicht um jeden Preis gewinnen wollen. Es sei darum gegangen, Motorkraft zu demonstrieren. „Wir haben keine Anhaltspunkte gesehen, dass der Angeklagte über Leichen gegangen wäre.“ Natürlich habe es Elemente gegeben, die auf einen Vorsatz schließen ließen. Da sei einer mit 167 Stundenkilometern auf der linken Spur unterwegs gewesen. Dann ein Aber: Es sei Ostermontag, kurz vor 22 Uhr gewesen – die Straße gut einsehbar – die Fahrbahn frei.

Es wird schon gut gehen

Man müsse die Situation vom Anfang des Rennens beurteilen. Als das Rennen begann, sei für den Angeklagten keine Gefahr zu erkennen gewesen. In der Vorstellungswelt des Angeklagten habe beispielsweise die Beschilderung der Straße keine Rolle gespielt. Er habe die Situation nicht wirklich einschätzen können. „Der Angeklagte ist davon ausgegangen: Es wird schon alles gut gehen. Das war kein Rennen zwischen Rivalen – es war ein Rennen zwischen Freunden. Der Angeklagte hat, als der den Citroen sah, auszuweichen versucht. Er hat ein Bremsmanöver eingeleitet.“
Im Gutachten eines Verkehrssachverständigen wurden die letzten fünf Sekunden vor dem Aufprall in Sekundenbruchteilen festgehalten. In der „Blackbox“ des Mercedes waren nicht nur Geschwindigkeit und Drehzahl gespeichert sondern beispielsweise auch Lenkbewegungen mit Gradangaben. Erstaunlich, was die Elektronik als „digitale Spuren“ sichtbar macht.

Tat- und schuldangemessen

Trotz allem entheben auch Zehntelsekundenprotokolle das Gericht nicht von seiner Aufgabe, am Ende ein Urteil zu fällen – tat- und schuldangemessen. Zahlen allein machen aber kein Urteil. Sie sind bestenfalls Indizien, die es zu deuten gilt. Das Gericht hat die vorhandenen Indizien gedeutet und sich eine Überzeugung gebildet: Es war kein Mord. Es war fahrlässige Tötung, kombiniert mit einem „verwerflichen Nachtatverhalten“ des Angeklagten.
Die Tat hat Trümmer hinterlassen – weit entfernt von den Totalschäden an Fahrzeugen hat es seelische Totalschäden gegeben. Ein Gericht hat geurteilt. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass es eine erneute Revision geben wird. Ob es zu einer dritten Verhandlung kommen wird, kann indessen niemand sagen.

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