Vom Ende der Freiheit III: Ende offen

KLEVE/BEDBURG-HAU. Herr X. wird lange sitzen müssen. Wegen Geiselnahme in Tateinheit mit besonders schwerem Raub und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen wurde X. zu neun Jahren Haft und anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt: Ende offen.
X. war im Mai vergangenen Jahres zusammen mit einem weiteren Mann aus der LVR-Klinik in Bedburg-Hau geflohen, wo beide Männer geschlossen in der Forensik der LVR-Klinik Bedburg-Hau untergebracht waren. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte zusammen mit einem weiteren damaligen Mitpatienten – beide waren geschlossen in der Forensik der LVR-Klinik Bedburg-Hau untergebracht – am Abend des 25. Mai gegen 22.20 Uhr unter Einsatz eines Messers und einer Rasierklinge einen Pfleger als Geisel genommen, dessen dienstliche und private Schlüssel mitsamt Autoschlüssel geraubt und unter dessen Bedrohung das Verlassen des gesicherten Bereiches („Wenn sich die Schleuse nicht öffnet, überlebst du das nicht!“) herbeigeführt haben. Anschließend sollen die beiden Männer, unter Zurücklassung des Pflegers, mit dessen Auto geflüchtet sein.
X. und der Mittäter flüchteten nach Aachen, wo sie auf einem Spielplatz von der Polizei gestellt wurden. X.s Mittäter wurde, als er eine Frau als Geisel nahm und mit einem Messer bedrohte, von der Polizei erschossen, X. selber wurde festgenommen.

Gutachten

Im Zentrum des letzten Verhandlungstages stand das psychiatrische Gutachten, in dessen Verlauf kein gutes Bild vom Angeklagten gezeichnet wurde. Es mangele ihm an Empathie gegenüber den Opfern. Zwar hatte sich X. bei den Pflegern der Forensik entschuldigen wollen, hatte aber der Gutachterin in Bezug auf Mitleid mit den beiden Männern gesagt: „Ich fühle es nicht.“ In ihrem Beruf, auch das habe X. geäußert, hätten auch die Aachener Polizisten mit dem, was passiert ist, rechnen müssen.
X. war bereits im Alter von einem Jahr von einem Lehrerehepaar adoptiert worden. Die Adoptivmutter: auch heute noch einziger Ankerpunkt in X.s Leben. Der Adoptivvater: pingelig und zu Ausbrüchen neigend. X.s Leben: eine Ansammlung des Scheiterns und letztlich eine fortgesetzte Rebellion. Gymnasium: abgebrochen. Lehre als Krankenpfleger: abgebrochen. Ausbildung zum Berufssoldat: abgebrochen. X.s „Drogenkarriere“ begann sehr früh. X.s Lebensmotto: „Nie mehr werde ich Opfer sein.“

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Glück gehabt

X. – so die Gutachterin – habe Glück gehabt: Trotz eines langen und exzessiven Drogenkonsums sei sein Gehirn nicht in Mitleidenschaft gezogen. X.: Ein Mann von durchschnittlicher Intelligenz und durchaus eloquent. Obwohl X. am ersten Verhandlungstag eingeräumt hatte, die Geiselnahme unter Alkoholeinfluss begangen zu haben, sah die Gutachterin die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit nicht erheblich eingeschränkt. Zu viele Entscheidungen hätten getroffen werden müssen und seien getroffen worden. In Aachen habe X. zwar unter Drogeneinfluss gestanden, aber auch hier sei die Steuerungsfähigkeit nicht aufgehoben gewesen. X. sei bei der Festnahme zwar zu allem bereit gewesen – habe aber den Tod nicht in Kauf nehmen wollen.
X. – auch das betonte die Gutachterin mehrmals – neige dazu, andere für seine Situation verantwortlich zu machen. Sein erstes Delikt beging X. im Alter von zwölf Jahren. Er habe überall nur das Schlechte mitbekommen.

Sinnlos

X. leide an keiner krankhaften seelischen Störung. Ein erneuter Versuch, X. von seiner Drogen- und Alkoholabhängigkeit mit einer Therapie wegzubringen: sinnlos. Zu oft habe X. seine Chance nicht genutzt.
Dann die Gefährlichkeitsprognose: Sein oppositionelles Verhalten – ein roten Faden in X.s Leben. Die Taten: bestimmt von zunehmender Gewalt. Im Alter von 13 Jahren ist X. missbraucht worden. Näheres erfährt man nicht, aber man erfährt von der Gutachterin, dass X. an dieser Kränkung „hängen geblieben“ sei. Es sei keine Bereitschaft zu sehen, dass X. sein Leben ändert. Die Persönlichkeit: eine Mischung aus deutlich narzistischen, hysterischen, disssozialen und psychopathischen Elementen. Die Gutachterin spricht von Distanz und Kälte gegenüber dem Leid der anderen. Die Voraussetzung für eine Sicherungsverwahrung (SV): gegeben.
Die Staatsanwaltschaft plädiert: Achteinhalb Jahre. Sicherungsverwahrung. Die Verteidigerin plädiert für ein mildes Urteil und die Aufhebung des Haftbefehls.

Ende einer Karriere

Dann das Urteil: Neun Jahre, anschließende SV. Der Vorsitzende spricht vom „Ende einer kriminellen Karriere“. „Natürlich ist das alles andere als erfreulich für Sie, aber Sie sollten es als letzte Chance sehen, Ihr Leben zu ändern.“ Auch dieses Urteil, so der Vorsitzende, bedeute nicht das Ende. „Nach vier Jahren wird sich die Frage nach der Sicherungsverwahrung erneut stellen. Momentan gehe es – und darauf ziele die SV ab – um eine Gefährdung der Allgemeinheit. „Wenn wir jetzt diese Sicherungsverwahrung nicht verhängen und sie verlassen nach neun Jahren das Gefängnis und begehen eine schlimme Tat, dann wird das dieser Kammer zugerechnet. Es geht um den Schutz der Allgemeinheit.“

Wie geht es Ihnen heute?

Draußen – im Innenhof der Schwanenburg – das große Besteck: Polizei, Hundeführer. Der letzte Tag hat mit einer durchaus empathischen Geste des Gerichts begonnen. „Wie geht es Ihnen heute?“ wandte sich der Vorsitzenden an den Angeklagten, der beim Eintritt des Gerichts (und später auch bei der Urteilsverkündung) sitzen geblieben war. Demk Vorsitzenden war anzumerken, dass seine Frage mehr war als ein Smalltalk vor dem Finale. „Wir sind heute alle etwas aufgeregt“, so der Vorsitzende. Der Angeklagte saß nicht – wie am ersten Tag – neben seiner Verteidigerin. Er musste auf der Bank hinter ihr Platz nehmen – sonders gesichert mit Fußfesseln und einem Brustgurt, der es ihm unmöglich machte, die Hände in den Handschellen anzuheben.
Die Sicherungsverwahrung als „ultima Ratio“ der Rechtsprechung: Schutz der Allgemeinheit einerseits und irgendwie auch ein Schwenken der weißen Fahne. Da scheint ein Mensch nicht mehr erreichbar – kann nicht nach dem Urteil in den Countdown übergehen, sondern muss damit rechnen, nach Verbüßen seiner Schuld weiter der Freiheit beraubt zu bleiben. Ende offen. Nur Kapitulation wird ihn retten: das Abschwören. Einer, der nie wieder Opfer sein wollte, hat sich selbst zum Opfer gemacht.

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