Vom Ende der Freiheit

KLEVE/BEDBURG-HAU. Herr Y. hat die Flucht nicht überlebt. In Aachen wurde er von einer Polizeikugel getroffen und verstarb. Das Ende der Freiheit. Vorher hatte er eine Geisel genommen. Herr Z. ist zusammen mit Herrn Y. geflohen. Er lebt und muss sich vor Gericht verantworten …

Die Tat

„Strafverhandlung gegen einen 44-Jährigen wegen Geiselnahme in Tateinheit mit besonders schwerem Raub und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in zwei Fällen. Laut Staatsanwaltschaft soll der Angeklagte zusammen mit einem weiteren damaligen Mitpatienten – beide waren nach § 64 StGB geschlossen in der Forensik der LVR-Klinik Bedburg-Hau untergebracht – am Abend des 25. Mai 2020 gegen 22.20 Uhr unter Einsatz eines Messers und einer Rasierklinge einen Pfleger als Geisel genommen, dessen dienstliche und private Schlüssel mitsamt Autoschlüssel geraubt und unter dessen Bedrohung das Verlassen des gesicherten Bereiches („Wenn sich die Schleuse nicht öffnet, überlebst du das nicht!“) herbeigeführt haben. Anschließend sollen die beiden Männer, unter Zurücklassung des Pflegers, mit dessen Auto geflüchtet sein. Als sie am 26. Mai von Polizeibeamten in Aachen entdeckt und angesprochen wurden, sollen sich beide Männer mit gezogenen Messern zunächst zu den Beamten umgedreht und ihnen zugerufen haben: „Ja, kommt doch“, anschließend aber in die entgegengesetzte Richtung weggelaufen sein. Auf der weiteren Flucht konnte der Angeklagte, der zunächst noch zwei Messer gegen die Beamten gerichtet, sich „kampfeslustig“ auf die Brust geschlagen und das Abstechen des Diensthundes angedroht haben soll, durch die Beamten festgenommen werden. Im Rahmen dessen soll der Angeklagte von dem Diensthund in den Bereich des Gesäßes gebissen worden sein. Der weitere Tatbeteiligte soll unterdessen auf einem Spielplatz eine Frau als Geisel genommen haben, indem er sie mit einem Arm von hinten umklammert und ihr ein Messer eng an den Hals gehalten haben soll. Nach mehrmaliger Warnung und Aufforderung, das Messer fallen zu lassen, wurde er von der Polizei erschossen.“

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Großer Bahnhof

Der erste Verhandlungstag: Wann hat es zuletzt einen solchen Bahnhof gegeben, wenn ein Angeklagter den Verhandlungssaal betritt? Es ist das ganz große Aufgebot. Der Angeklagte tritt den Kameras offen entgegen. Kein Aktendeckel schützend vor dem Gesicht. Stattdessen: Weißes Hemd. Tut das etwas zur Sache? Natürlich nicht. Man ist ja nicht im amerikanischen Western, wo Weiß gut ist und Schwarz schlecht.

Angespannt

Z.s Verteidigerin gibt bekannt, dass sich ihr Mandant sowohl zur Person als auch zur Tat einlassen wird. „Da Herr Z. sehr nervös und angespannt ist, werde ich zunächst Angaben machen. Anschließend wird Herr Z. Ihre Fragen beantworten“, erklärt sie dem Gericht. Sie erklärt auch, dass Z. zutiefst bereut, was geschehen ist – dass er sich bei allen Opfern entschuldigen wird. Später wird Z. sagen, dass er gern alles rückgängig machen würde: „Aber ich weiß, das geht nicht.“
Der erste Verhandlungstag ist also einzig auf Herrn Z. abgestellt. Keine Zeugen – nur der Mann, der sich als beredt darstellt und dem man anmerkt, dass er im Vokabular der Therapie zuhause ist. Er kennt sich aus.

Adoptiert

Herr Z. hat die Mittlere Reife, wurde im Alter von einem Jahr zur Adoption freigegeben und kam zu einem Lehrerehepaar. Zu seiner Adoptivmutter hat Z. noch heute ein gutes Verhältnis, der Adoptivvater – er neigte, erfährt man, zum Jähzorn – ist bereits verstorben. Herr Z. war zwei Mal verheiratet und wurde zwei Mal geschieden. Herr Z. ist 44 und ganz nebenbei bemerkt der Vorsitzende: „Ich sehe, Sie haben heute Geburtstag.“ Niemand gratuliert.
Dann die „Fragen zur Sache“. Der Weg durch Flucht und Festnahme dauert lange: drei Stunden stellt der Vorsitzende Fragen, verliest den Auszug aus dem Bundeszentralregister: 17 Vorstrafen stehen zu Buche. Es beginnt bei Diebstählen (Beschaffungskriminalität eines Süchtigen) und reicht bis zu schweren Körperverletzungen.

Raus hier – egal, was passiert

Die Flucht – so stellt Z. es dar: eine eher spontane Sache zwischen Y. und ihm. „Wenn du jetzt gehst, geh‘ ich mit.“ Das Motto: Raus hier – egal was passiert.
Mit zwei Messern – eines davon aus einem Nassrasierer gebaut – nehmen Y. und Z. einen Pfleger als Geisel und bedrohen ihn: Klingen am Hals. Vorsitzender: „Ein Messer am Hals ist eine klare Botschaft.“

Aufgesetzter

Z. hatte – erfährt man – Alkohol getrunken. Da war dieser Mayonnaise-Eimer, in dem ein Mitgefangener „Aufgesetzten“ angesetzt hatte: Früchte oder Limonade, Weißbrot, Zucker – zehn Tage warten: fertig. Und dann noch das Desinfektionsmittel aus einem Spender im Bereich der Kunsttherapie. Man zapft das Zeug ab – es handelt sich, sagt Z., um hochprozentigen Alkohol –, füllt es in eine Flasche und gibt Sirup dazu. „Für den Geschmack.“ So jedenfalls stellt es der Angeklagte dar. Den Spender füllt man anschließend mit Wasser nach, damit es nicht auffällt. Vorsitzender: „Und das kann man trinken?“ Z.: „Leider ja. Ein Genuss ist das nicht.“ [Auf der Internetseite des Herstellers heißt es: „Aseptoman Med ist durch seinen niedrigen Alkoholgehalt besonders hautverträglich. … 100 Gramm Lösung enthalten 65 Gramm Ethanol.“ Anm. d. Redaktion.]

Entzug

All das geschieht – man reibt sich die Augen – in einer Entziehungsanstalt“.
Paragraph 64, Strafgesetzbuch: „Hat eine Person den Hang, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, und wird sie wegen einer rechtswidrigen Tat, die sie im Rausch begangen hat oder die auf ihren Hang zurückgeht, verurteilt oder nur deshalb nicht verurteilt, weil ihre Schuldunfähigkeit erwiesen oder nicht auszuschließen ist, so soll das Gericht die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt anordnen, wenn die Gefahr besteht, dass sie infolge ihres Hanges erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird.“

Das glauben Sie nicht?

Natürlich: Auf der Station werden regelmäßig Drogenscreenings durchgeführt, aber nicht jeder Patient wird täglich getestet. Oft genug hat man schon gehört, dass auch in Justizvollzugsanstalten alles zu haben ist, was zur „Betäubung“ tauglich ist. Warum also sollte es in einer Entziehungsanstalt anders zugehen? Vorsitzender: „Da sind dann alle besoffen?“ Z.: „Das glauben Sie nicht?“ (Natürlich meint der Vorsitzende nicht ‚alle‘.)

“Wir hatten einen guten Draht zueinander”

Immer wieder fragt er auch nach dem Wann und Was, dem Wie und dem Warum. Wie lief die Flucht ab? Was hat Z. gedacht, gefühlt, geplant? War das Geschehene wirklich eine spontane Tat oder eben von mindestens „mittellanger Hand“ geplant? Über Y. sagt Z.: „Wir hatten einen guten Draht zueinander.“ Den Vorsitzenden interessiert natürlich auch, was zwischen der Flucht aus der Anstalt und den Ereignissen in Aachen passiert ist. Wurden Drogen beschafft und wenn ja: Wie wurden sie bezahlt? „Sie hatten doch kein Geld.“ Z.: „Wenn Sie in einer solchen Situation sind, spendet auch schon mal jemand was.“ (Verhaltenes Lachen im Saal. Die Berichterstatter nicken sich zu. Publikum ist nicht anwesend.) Z.s Verteidigerin greift ein: Es soll nichts erörtert werden, was nicht Teil der Anklageschrift ist. Wann sich Y. und Z. wo aufgehalten, wen sie besucht haben, wird ihr Mandant nicht erörtern.

Unterbrechung

Als Z.s Aussage auf das Finale zusteuert – die Festnahme in Aachen und den Tod des Y. –, unterbricht der Vorsitzende die Sitzung. „Ich habe den Eindruck, die Antworten sind gerade etwas fahrig und bestimmt greift Sie das auch an.“
Nach der Pause gibt der Vorsitzende bekannt, dass für die kommenden Verhandlungstage eine Testpflicht für alle Prozessbeteiligten angeordnet wird. Dann erzählt Z. von der Festnahme. Man habe durchaus damit gerechnet, die Sache nicht zu überleben. „Als die ‚Halt, Polizei!‘ riefen, haben wir uns offensiv verhalten. Wir haben die Messer gezückt. Die hatten schon die Waffen in der Hand und uns war klar: Das geht hier nicht gut aus. Die schießen und du bist tot. Wir haben es drauf angelegt.“

“Ich mag Hunde”

Nach dem Tod des Y. allerdings lenkt Z. irgendwann ein. Ein Gedanke: „Wenn die dir jetzt in die Beine schießen oder anderswohin und du sitzt danach im Rollstuhl …“ Ja – er hat gedroht, dem Polizeihund die Kehle aufzuschlitzen. „Aber ich habe gleich anschließend gesagt: „Ich mag Hunde.“ Vom Pfefferspray, das die Beamten gegen ihn einsetzen, merkt Z. nichts. „Ich stand doch total unter Stress.“ Z. wird – so steht es in der Anklage – vom Polizeihund ins Gesäß gebissen. „Der hat auch in meinen Oberschenkel gebissen“, sagt Z. „Der hatte sich richtig festgebissen. Die mussten den von mir lösen.“ Z. erzählt auch, dass man die Wunde nicht versorgt habe. Eine Tetanusspritze habe er bekommen. „Wir werden all das ja dann auch von den Zeugen hören“, sagt der Vorsitzende am Ende des ersten Verhandlungstages.

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