Ernst machen

NIEDERRHEIN. Vielleicht einfach mal auf den Knopf drücken: alles abschalten – einen Tag nur. Keine Angst: Hier sind nicht Kraftwerke, Heizungen oder das Internet gemeint – und eigentlich ist doch von Kraft, Heizung und Kommunikation die Rede.
Christian Schages ist Musiker. Er betreibt verschiedene Schlagzeugschulen, ist mit seiner Band auf Tour – mit einer Karaoke-Show war er europaweit unterwegs. Am 12. Dezember wollte der 38-Jährige sein 30-jähriges Bühnenjubiläum feiern. „Das mag komisch klingen, wenn einer mit 38 sein 30-jähriges Bühnenjubiläum begeht“, sagt er, aber da ließen sich andere Beispiele finden. Nun denn – eigentlich also sollte am 12. Dezember richtig was los sein. Dann kam (und blieb) Corona. Schwer gebeutelt: die Kulturschaffenden. Schages: „Das sind ja längst nicht nur die, die vorn auf der Bühne stehen. Schauen Sie sich die gesamte Veranstaltungsbranche an. Das sind – so gesehen – im wahrsten Sinn die Verstärker für alles, was sich auf Bühnen abspielt.
Dann die Idee. Schages formuliert sie folgendermaßen: „Ein Tag ohne Kultur erstmalig am 12. Dezember zur Wertschätzung und Unterstützung der durch Corona gefährdeten Kulturlandschaft, sowie für die finanzielle Rettung betroffener Existenzen. Freiwillige und selbstschöpferische Ideenumsetzung gewünscht. Ein Tag Radio- und TV-Programm ohne Musik, ohne Jingles, ohne Kultur, ohne Comedy, ohne (kreative) Werbung, ohne unterhaltsame und kulturelle Artikel auch in der Zeitung. Auch im Privaten: Einen Tag keine Musik hören, keine Filme gucken, keinen Handyklingelton einschalten, ein Tag Stille am 12. Dezember – für alle wahrnehmbar. Kaum vorstellbar, fast nicht umsetzbar, aber denkbar.“
Man denkt an Zuckmayers Hauptmann von Köpenick: „Willem – du pochst anne Weltordnung.“ Und tatsächlich: Beim Nachdenken über Schages‘ Idee krampft das Hirn. Einen Tag keine Musik hören? Keine Filme gucken? Ein Tag ohne Handyklingelton? Echt jetzt?
Irgendwie ist diese Idee als Anregung zu einem Gedankenexperiment zu sehen. Viele erleben beispielsweise Musik längst nicht mehr als etwas Besonderes. Musik ist überall: Draußen(!!) vor Geschäften, in Aufzügen, Arztpraxen, auf Toiletten. Allgegenwart steigert nicht wirklich die Wertschätzung. Das Gegenteil ist der Fall. (Und nur mal so nebenbei: Wer im ZDF Sport schaut, wird, sobald eine Tabelle ins Bild kommt, mit Musikhintergrundtapete beschossen. Einfach mal drauf achten.) Was noch dazu kommt: Musik ist etwas sehr Subjektives, wenn es an die Geschmacksnerven geht. Was dem einen Lebenshilfe (oder -unterstützung), ist dem anderen Nervensägerei. Musik ist wie Qualm: Man kann ihr kaum entkommen. Stille ist längst zu einem wirklich bedrohten Glückszustand geworden. Eine andere Geschichte …
Schages‘ Idee vom „Tag ohne Kultur“ greift weiter über die Klangwelten hinaus. Er zielt auf Bewusstmachung. Was würde fehlen ohne die Kultur? Und: Was ist Kultur? Der Duden antwortet: „Gesamtheit der geistigen, künstlerischen, gestaltenden Leistungen einer Gemeinschaft als Ausdruck menschlicher Höherentwicklung“. Immer wieder wird in den letzten Monaten über das Systemrelevante geredet und diskutiert. Die Kultur – diesen Eindruck hat auch Schages – gehört jedenfalls nicht dazu, obwohl sie im übertragenen Sinne sehr wohl ein Lebens-, wenn nicht gar ein Überlebensmittel ist. „Manche Dinge bemerken wir erst, wenn sie plötzlich fehlen“, sagt Schages. Eben darum geht es. „Es muss ja auch vielleicht nicht gleich ein ganzer Tag sein. Vielleicht eine Stunde – ein paar Minuten nur. Hauptsache ist, dass die Menschen sich klarmachen, was ohne Kultur fehlen würde.“
Bei Youtube hat Schages unter dem Stichwort „Ein Tag ohne Kultur“ ein Simulationstestbild eingerichtet. „Wir simulieren keine Kultur“ steht da groß und in Rot und darunter: „Dieses Testbild simuliert, wenn Du auf Deine Lieblings-Künstler verzichten musst.“ Dazu noch eine Adresse: www.ein-tag-ohne-kultur.de.
Schages: „Mit geht es bei der Umsetzung nicht um einen Zwang – es geht um eine Erfahrung, die jeder, der sich darauf einlässt, machen kann. Natürlich: Manche Dinge fallen erst durch Abwesenheit auf. Wer denkt schon darüber nach, dass morgens Wasser aus dem Hahn läuft? Ein Tag ohne Kultur ist also eine Art Trockenübung.
Leider haben sich bisher keine Sendeanstalten bei Schages gemeldet. „Natürlich sollen die nicht einfach mit dem Senden aufhören, aber es wäre schön, wenn – vielleicht nur eine Minute lang – Stille herrschen würde oder im Fernsehen ein Testbild zu sehen wäre.“ So viel ist sicher: Die Menschen wären stark verunsichert. „Und vielleicht würden manche danach den Stellenwert von Kultur anders einschätzen“, sagt Schages.
Noch ist ein bisschen Zeit. Wer weiß, was am 12. Dezember passiert – oder besser: nicht passieren wird. Eigentlich taugt Schages‘ Idee für etwas Großes. Sie könnte viral gehen. Wie hieß es im Duden zum Stichwort Kultur: Höherentwicklung.
Schages‘ Youtube-Testbild gibt es in der homöopathischen 60-Sekunden-Version, aber auch in der Challenge-Version von 60 Minuten und für die ganz Harten als 12-Stunden-Version. „Eine 24-Stunden-Version hat Youtube nicht zugelassen“, sagt Schages. Warum nur?

Christan Schlages

Vorheriger ArtikelEin Brotbrand aus dem 
„Altdeutschen Krüstchen“
Nächster ArtikelMit einer Listenverbindung gemeinsame Politik machen