Die Verfolger

KREIS KLEVE. Der Fotograf: mittelglücklich – bestenfalls. Menschen mit Masken, Menschen am Telefon? Wo bleiben die optischen Höhepunkte? Endlich einmal, denkt der Schreiber, passen nicht tausend Worte in ein Bild.

Die Crew

Kreisverwaltung Kleve, Prinz-Moritz-Saal, 24. November. Keine Hochzeit, aber trotzdem das ganz große Aufgebot: Landrätin Silke Gorißen, Dr. Lutz Rauscher (Leiter Fachbetrieb Gesundheit, Leiter Corona-Stab), Dr. Petra Dicks (stellvertretende Amtsärztin), Frank Beiersdorff (Stabsfeldwebel, Kommandoführer), Rudolf Röhrl (Oberstleutnant, Leiter Kreisverbindungskommando Kreis Kleve), Philippe Stupp (Presseoffizier, Zentrum Loftoperationen Bundeswehr), Ruth Keuken (Pressesprecherin des Kreises Kleve).

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Lieber mit

Die Begrüßung: Faust an Faust – Knöchelkontakte. „Willkommen im Kreishaus“, sagt die Landrätin. Der Raum: auch für neun Personen platztechnisch so ausgelegt, dass sich niemand sorgen muss. „Vielleicht können wir ja am Platz die Masken abnehmen“, schlägt die Landrätin vor. Die stellvertretende Amtsärztin sieht es anders: lieber mit.

Teil 1: Theorie

Das Thema: Kontaktpersonennachverfolgung – Teil 1 – Theorie. Der Leiter des Coronastabes nennt die Zahlen des Tages. Der Inzidenzwert: 87,4. „Das ist – verglichen mit gestern – ein Minus von 5,4“, sagt Lutz Rauscher. 40 Menschen haben sich neu infiziert. 3.053 sind es seit Beginn der Krise. 68 Tote hat es in Verbindung mit Corona gegeben. „Heute sind 1.842 Menschen in Quarantäne“, nennt Rauscher die neuen Zahlen. „Gestern waren es 2.214.“ Die Schwankungen: Normal. Natürlich macht es einen Unterschied, ob eine halbe Klasse in Quarantäne muss oder ein Mensch aus einem Haushalt mit vier Personen.

Intensiver als gedacht

Die Kontaktpersonennachverfolgung – das wird am Ende feststehen – ist komplizierter, zeit- und personalintensiver als man sich das gedacht hatte. Erste Aufklärung: Das Robert Koch Institut empfiehlt für eine effektive Nachverfolgung pro 20.000 Einwohnern fünf Verfolger.
„Sie können sich vorstellen“, sagt Lutz Rauscher, „dass wir das allein mit den Bordmitteln der Verwaltung nicht gestemmt bekommen.“ Externe Personen werden gebraucht. Zum einen kommen die von anderen Behördern (Gerichte, Zoll und Bundeswehr werden genannt), zum anderen hat der Kreis online Containment-Scouts gesucht. Ein Begriff, den man gern mit Inhalt tapezieren möchte. „Es handelt sich da um die Nachverfolger“, erklärt Silke Gorißen. Hätte sie‘s nicht gesagt – man hätte es googeln müssen.

Aberwitzige Theorien

Es gebe, so Ruth Keuken, die aberwitzigsten Theorien bezüglich der Personen, die sich ums Nachverfolgen kümmern. Man könne ja auf Ehrenamtler zurückgreifen – eine der Theorien. „Da kann es dann passieren, dass jemand Ihnen sagt, er kann nur mittwochs zwischen dann und dann und das auch nur in jeder zweiten Woche“, sagt Keuken, „und Sie können sich vorstellen, dass uns damit nicht geholfen ist.“ Es gehe um Vollzeitkräfte. Petra Dicks: „Wir sind sieben Tage in der Woche im Einsatz.“ Die Containment-Scouts bekommen Zeitverträge, die bis Juni nächsten Jahres datiert sind. Wichtig auch: Die „Telefoncrew“ muss erst einmal geschult werden. Schließlich müssen alle auf möglichst jede Frage antworten können, die dann im Einsatz gestellt wird.
Mit im Nachverfolgeboot: zehn Soldaten von der Bundeswehr – eigentlich sind es neun Soldaten und eine Soldatin. Eingestiegen ist „die Truppe“ Anfang November und gerade eben wurde das Mandat bis zum 8. Januar verlängert. Oberstleutnant Rudolf Röhrl: „Das Kreisverbindungskommando hat den Kreis beraten. Verbindungskommandos gibt es übrigens bundesweit. In Nordrhein-Westfalen unterstützen wir von seiten der Bundeswehr derzeit 45 Gesundheitsämter. Wir sprechen da von rund 1.000 Soldaten.“

Mehr als zufrieden

Stabsfeldwebel und Kommandoführer Frank Beierdsdorff ist mit den Arbeitsumständen mehr als zufrieden. „Wir sind hier im Team herzlich aufgenommen worden.“ Die Begrüßung der „Unterstützungskräfte“: Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Landrätin. Beiersdorff: Vor allem habe es von Anfang an Arbeitsplätze gegeben. Rudolf Röhrl: „Ich kann Ihnen sagen: Das ist nicht selbstverständlich. Der Kreis Kleve hat seine Hausaufgaben im Vorfeld gründlich erledigt.“ Was nützt am Ende die Manpower, wenn es keinen Arbeitsplatz gibt? Arbeitsplatz bedeutet: Computer, Telefon, Zugriff auf die Datenbank. Könnte das Mandat der Bundeswehr über den Januar hinaus verlängert werden? Frank Beiersdorff:
„Der Kreis Kleve müsste dann zunächst einmal einen neuerlichen Antrag stellen. Über den wird allerdings in Berlin entschieden.“ „Nur, um Ihnen mal einen ersten Eindruck von der Nachverfolgung zu geben: Pro Tag geht es um 110 bis 130 neue Indexfälle. Das wiederum bedeutet: Zu jedem COVID-Erkrankten gehören durchschnittlich zehn Kontaktpersonen“, erklärt Lutz Rauscher. So hatte man das noch gar nicht gerechnet. Auf in die Praxis.

72 Verfolger

Ach ja: Folgt man der Empfehlung des RKI, braucht der Kreis Kleve ingsgesamt 72 Personen, die sich (sieben Tage in der Woche) um die Nachverfolgung kümmern. Ruth Keuken rechnet vor: Derzeit beschäftigen wir 32 Mitarbeiter des Kreises, dazu kommen weiter 30 aus Städten und Kommunen und schließlich sind da die zehn Leute von der Bundeswehr.“ Derzeit werden die Bewerbungen gesichtet, die bei der Online-Ausschreibung eingegangen sind. „Diese Tätigkeit stellt hohe Anforderungen“, erklärt Silke Gorißen. „Eine ganze Schicht lang hochkonzentriert zu telefonieren und dabei auch empathisch zu sein – das schafft nicht jeder.“ Dazu kämen, so Gorißen mitunter auch sprachliche Anforderdungen. Lutz Rauscher ergänzt: „Es kann auch vorkommen, dass wir nach einem ersten Kontakt feststellen: Da muss ein Dolmetscher her.“

René Barz und Julia Groesdonk. Sie gehören zum Verfolgerteam. NN-Foto: Rüdiger Dehnen

Teil 2: Praxis

Die Landrätin verabschiedet sich. „Sie werden mich jetzt nicht mehr brauchen.“ Was, bitte schön, soll man antworten? Es geht zur Nassauerallee 22. Hier spielt sich alles ab. Lutz Rauscher erklärt: „Wir haben hier 22 Arbeitsplätze, die wir im Schichtdienst mit insgesamt 32 Personen besetzen. Mittlerweile – Sie werden das wissen – haben wir ein zweites Nachverfolgezentrum auf dem Flughafengelände in Weeze. Dort arbeiten 18 Mitarbeiter in der Kontaktpersonennachverfolgung. Julia Groesdonk ist gewissermaßen Teil der „Bordmittel“ des Kreises. Sie arbeitet im Gesundheitsamt und kümmert sich seit März um die Nachverfolgung. Ihr gegenüber sitzt – natürlich sind die beiden durch eine Plexiglasscheibe getrennt – Stabsfeldwebel René Barz.

Durchschitt: 20 Minuten

Die Jagd nach den Zahlen: Wie viele Telefonate führt im Verlauf einer Schicht? Das sei schwer zu sagen, stimmen die beiden überein. „Gehen Sie davon aus, dass ein normales Gespräch circa 20 Minuten dauert, aber es gibt auch Telefonate, die 90 Minuten dauern können“, erklärt René Barz. Wie das? „Naja – Sie rufen an und dann erfahren Sie, dass die positiv getestete Person in einem Haushalt mit 5 Personen lebt und vielleicht auch noch die Schwiegermutter zu Gast ist. Da müssen Sie dann erst einmal alle Daten erfassen und das kann dauern. Dazu die üblichen Fragen der Betroffenen.“ Die da wären? Julia Groesdonk: „Wie lange muss ich in Quarantäne bleiben? Das ist natürlich die Hauptfrage – gefolgt von: Hebt ein negativer Test die Quarantäne auf?“ Die Antwort lautet übrigens: „Auf keinen Fall.“ Gibt es Leute, die am Telefon sauer sind? „Das ist uns noch nicht passiert“, sind die beiden sich einig. Was wohl passiert: Menschen machen sich Sorgen. „Ich hatte ein Gespräch mit einem älteren Herrn, der einen Hund hatte, aber keinen Garten. Der durfte ja in Quarantäne nicht nach draußen und wusste nicht, was er jetzt machen sollte. Ich habe selber Tiere. Da konnte ich die Verzweiflung gut nachvollziehen. Ich habe dem Herrn dann empfohlen, sich an ein Tierheim, einen Tierschutzverein oder die Stadtverwaltung zu wenden.“

Vorbereitet

Viele Menschen, die er anrufe, seien auf den Anruf vorbereitet, sagt René Barz: „Die haben sich schon Gedanken darüber gemacht, was sie in den letzten Tagen gemacht und wen sie getroffen haben.“ Dass manche schon vor dem Anruf von ihrem positiven Testergebnis wüssten, liege daran, „dass die die Corona-App auf dem Smartphone haben. Da geht dann die Benachrichtigung mitunter schneller als bei uns.“
Ein paar Räume weiter: Die Ablage. Dort finden sich die Nummern der Menschen, die angerufen werden müssen. „Man geht hin und nimmt sich einfach die nächsten Zettel, um die dann abzuarbeiten“, erklärt Julia Groesdonk. Am besten immer von oben abheben. „Dann wird alles chronologisch abgearbeitet.“
Wie sieht es mit den Erreichbarkeiten aus? Petra Dicks: „Die Woche über sind wir zwischen 7 und 18 Uhr erreichbar, an Wochenenden zwischen 11 und 17 Uhr. Das allerdings sind nur die „Wunschzeiten“. „Wenn ich um 17.45 Uhr einen Anruf mache, weiß ich ja nicht, ob es jetzt 20 Minuten und anderthalb Stunden dauert“, sagt René Barz.
Er und Julia Groesdonk wirken entspannt und nicht gestresst. „Was wir hier machen, ist wichtig“, sind beide sich einig und eben das motiviert alle, die zum Team gehören – jeden Tag neu.

Arbeit gibt’s jede Menge.
NN-Foto: Rüdiger Dehnen
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