Seit 40 Jahren gut beraten

Das Schwangerschaftskonfliktgesetz gab den Ausschlag für die Eröffnung

Das Beraterinnenteam (v.l.): Nicole Saat (Leiterin der Beratungsstelle), Milena Wehren, Andrea Harks und Kathrin Stamm. Foto (Archiv): Awo

KREIS KLEVE. Eigentlich wäre das ein Grund zum Feiern, Corona-bedingt verzichtet man aber erstmal darauf: Seit 40 Jahren gibt es die Beratungsstelle für Schwangerschaft, Partnerschaftsfragen und Familienplanung der Kreis Klever Arbeiterwohlfahrt (Awo). Am 1. August 1980 nahm man in der Kreisstadt Kleve die Arbeit auf. Grundlage für diesen Entschluss war das Schwangerschaftskonfliktgesetz.

„Damals ging es in erster Linie darum, langfristig die Anzahl ungewollter Schwangerschaften zu verringern“, erklärt Nicole Saat, die heute die Beratungsstelle leitet. Sie sagt: „Bevor ein straffreier Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden darf, muss eine entsprechende Beratung erfolgt sein. Die Awo wollte sicherstellen, dass eine Beratung erfolgt, bei der das Selbstbestimmungsrecht der Frau im Mittelpunkt steht.“

-Anzeige-
Nicole Saat leitet die Beratungsstelle der Kreis Klever Awo.
NN-Foto: vs

In Sachen Schwangerschaftsabbruch bewegte man sich damals auf neuem Terrain. Bis zur Reform des Paragrafen 218 im Jahr 1976, demzufolge ein Schwangerschaftsabbruch mit Haft und hohen Geldstrafen geahndet werden konnte, war ein Abbruch generell verboten. Frauen, die abtreiben wollten, waren gezwungen, sich auf illegale Weise Hilfe zu suchen. „In Westdeutschland fanden jährlich um die 400.000 illegale Abbreibungen statt“, weiß Saat. Sogenannte „Engelmacher“ und Pfuscher, die ihre Eingriffe oft unter hygienisch bedenklichen Bedingungen und ohne die nötige Kenntnis vorgenommen haben, schlugen aus der Not der Frauen Profit. Saat: „Die Frauen haben riskiert, unfruchtbar zu werden oder sogar ihr Leben dabei aufs Spiel gesetzt.“

„Mein Bauch gehört mir!“

Anfang der 1970er Jahre formierte sich Widerstand gegen die Unterdrückung der Frau. Der „Abtreibungsparagraf“ geriet dabei in den Fokus. Der Slogan „Mein Bauch gehört mir!“ wurde zum Markenzeichen des bundesdeutschen Feminismus. Die Forderungen: Selbstbestimmung über den eigenen Körper, ersatzlose Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch, umfassende sexuelle Aufklärung, selbstbestimmte Sexualität und freier Zugang zu Verhütungsmitteln. Nach der Reform konnten Frauen mit ärztlicher Bescheinigung und nach Besuch einer Beratungsstelle aus sozialen, medizinischen, kriminologischen und eugenischen Gründen abtreiben lassen.

„Schutz des ungeborenen Lebens“

1995 wurde das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz erneut reformiert. Ein Schwangerschaftsabbruch ist bis heute straffrei , wenn die Frau durch eine Bescheinigung nachweist, dass sie mindestens drei Tage vor dem Abbruch in einer anerkannten Schwangerschaftsberatungsstelle beraten wurde und die Schwangerschaft innerhalb von zwölf Wochen nach Empfängnis durch einen Arzt abgebrochen wird. Die Pflichtberatung solle „ergebnisoffen“ geführt werden, aber dem „Schutz des ungeborenen Lebens dienen“. Seitdem kam es zwar immer wieder zu politischen Diskussionen, geändert hat sich aber nichts mehr. Für Saat und das Awo-Team ein Lichtblick: „Wir begrüßen sehr, dass seit vergangenem Jahr eine Liste mit Ärzten, die Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland durchführen, auf der Seite der Bundesärztekammer abrufbar ist.“ Was für die Beratungsstelle von Anfang an selbstverständlich war: „Wir haben den Frauen, die abtreiben wollten, immer Adressen an die Hand gegeben und sie nicht allein gelassen bei der Suche nach einem Arzt“, sagt Saat. Im Kreis Kleve gebe es allerdings nach wie vor keinen Gynäkologen, der eine Abtreibung durchführt. Saat betont: „Wir setzen uns weiterhin dafür ein, den gesetzlichen Beratungszwang im Schwangerschaftskonflikt abzuschaffen.“ Sie wertet es als Bevormundung. „Frauen sind sehr wohl selbst in der Lage, darüber entscheiden zu können“, sagt sie.

Die Beratungsstelle

Im Laufe der vergangenen 40 Jahre wurde das Team der Beratungsstelle für Schwangerschaft, Partnerschaftsfragen und Familienplanung erweitert, mobile Beratungsangebote und weitere Anlaufstellen im Kreisgebiet kamen hinzu. Die Prävention ungewollter Schwangerschaften, vor allem auch mit Blick auf die hohe Zahl minderjähriger Schwangerer, und das Entwickeln einer gesunden Einstellung zur eigenen Sexualität, führte In den 2000er Jahren zur Erweiterung der Beratungsangebote. Zunächst wurden sexualpädagogische Projekte für die weiterführenden Schulen im Kreis Kleve angeboten, seit 2005 auch für die vierten Grundschulklassen. Informationsveranstaltungen in dem Bereich frühkindliche Sexualität als auch zum Thema Liebe und Behinderung gehören heute zur Arbeit der Schwangerschaftsberatung. Eine anonyme Chat-Beratung, aktive Mitarbeit in den Netzwerken der Frühen Hilfen, Beratung nach auffälliger Pränataldiagnostik und die Beantragung von Geldern aus der Bundesstiftung Mutter Kind ebenfalls.

Menschen ermutigen

„Inhaltlich sind wir heute sehr breit aufgestellt“, erklärt Nicole Saat, dass ungeplante Schwangerschaften längst nicht mehr den größten Teil der Arbeit ausmachen. Informationen zu rechtlichen, sozialen und/oder wirtschaftlichen Belangen, Beratung nach der Geburt, Fragen zur Familienplanung und Verhütung, Fragen zur Sexualität oder Probleme mit der Sexualität, Fragen zu vorgeburtlichen Untersuchungen, Beratung zur ungewollten Kinderlosigkeit oder nach einer Früh-, Tod- oder Fehlgeburt, Konflikte in der Partnerschaft, Fragen zur frühkindlichen Erziehung/Entwicklung – der Bedarf ist groß, die Fragestellungen vielschichtig. Insgesamt wurden in den vier Jahrzehnten 21.459 Hilfesuchende beraten. „Zusätzlich erreichen wir im Durchschnitt jährlich rund 1.200 Personen durch sexualpädagogische Veranstaltungen und Projekte in Schulen und Einrichtungen“, kann Saat berichten. „Wir nehmen Ratsuchende mit ihrer Verantwortung und ihrem Recht auf Selbstbestimmung ernst, stärken ihre Ressourcen und unterstützen sie bei ihren Entscheidungen. Beratung soll – so steht es im Gesetz – die zu beratenden Menschen ermutigen und nicht einschüchtern. Sie soll Verständnis wecken und nicht bevormunden. Die Ratsuchenden sollen bei der Entscheidung größere Sicherheit in ihrem Entschluss entdecken, ihre eigenen Bedürfnisse erkennen und Stärke entwickeln.“

Das Netzwerk

Die Awo Beratungsstelle arbeitet mit Gynäkologen, Hebammen, Krankenhäusern, sozialen Institutionen, Gleichstellungsbeauftragten, anderen Beratungsstellen, Hochschulen, Schulen, Kindergärten, Polizei zusammen und ist in diversen Arbeitskreisen, kreis- und landesweit vertreten. „Für den Kreis Kleve wünschen wir uns einen Verhütungsmittelfonds, der Menschen in einer finanziellen Notlage unterstützt“, ist eines der Ziel, dass sich die Mitarbeiter der Beratungsstelle aktuell gesteckt haben.

Kontakt
Die Awo Beratungsstelle vergibt individuelle Termine und ist dazu werktags von 8 bis 13 Uhr telefonisch unter 02821/ 9768377 oder per mail unter beratung@awo-kreiskleve.de zu erreichen. Sollten Betroffene Symptome einer Erkrankung zeigen, kann in Ausnahmefällen telefonisch beraten werden.

Vorheriger ArtikelVerstehen kann man’s nicht
Nächster ArtikelKreis Wesel: Sofortige Quarantäne angeordnet