GOCH. „Facing Britain“: Das ist die erste umfangreiche Ausstellung außerhalb Großbritanniens, die nahezu alle wichtigen Vertreterinnen und Vertreter der britischen Dokumentarfotografie seit den 1960er-Jahren vereint. Zu sehen sind die rund 200 Fotografien der 28 Künstler ab Sonntag, 27. September, im Museum Goch.

„Wir eröffnen damit eine Ausstellung, die wir seit vielen Jahren angedacht, geplant und diskutiert haben“, so Museums-Direktor Dr. Stephan Mann, „der Blick zeigt uns ein Land auf der Suche nach Identität; die Fotos dokumentieren die Zerrissenheit, bieten aber auch einen beinahe liebevollen Blick auf die Realität“. Dieser Zwiespalt sollte Inhalt der Ausstellung sein. Man sei dem Kurator Ralph Goertz vom IKS in Düsseldorf (Institut für Kunstdokumentation und Szenografie) unendlich dankbar, dass er die Aufgabe, diese Ausstellung zu kuratieren, mit Hingabe übernommen habe. „Das wäre für unser Museum gar nicht zu machen gewesen“, unter­streicht Dr. Mann. Ralph Goertz gelte als einer der profiliertesten Kuratoren im Rheinland, vor allem für Fotografie. „Wir steigen allerdings nicht von 0 auf 100 in das Thema ein“, verweist Dr. Mann auf andere Ausstellungen im Gocher Museum, zum Beispiel 2013 mit Werken der in Johannesburg geborenen Künstlerin Jodi Bieber.

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Mr. Jackson 1974. Foto: John Myers

Weltklasse

Ralph Goertz hat in den vergangenen Jahren Kontakt zu den Fotografen aufgenommen und Koffer voller Negative gesichtet. So sind in Goch auch erstmals Aufnahmen von Rob Bremner und Peter Mitchell als Prints zu sehen. „Das ist Weltklasse, was hier gezeigt wird“, freut sich Goertz und macht deutlich, worauf es ihm ankommt: „Ich wollte auch Fotografen eine Stimme geben, die im eigenen Land nichts zählen, das habe ich zu meinem Thema gemacht.“ So sind deren Arbeiten neben denen von Martin Parr zu sehen, der zu den arriviertesten britischen Fotografen zählt.

Umfassende Retrospektive

In Großbritannien galt die Fotografie bis in die 1980er-Jahre nicht als autonome Kunstform. Lediglich für einzelne Fotografen hätten einzelne, kleine Ausstellungen stattgefunden. „Erst 2007 gab es eine Ausstellung, die aber nicht in diese Tiefen ging“, erzählt Ralph Goertz. Eine Retrospektive in dieser Form habe es einfach noch nicht gegeben.

Die Aufnahmen aus Martin Parrs Serie „The Last Resort“ dokumentieren das Freizeitvergnügen im heruntergekommenen Badeort New Brighton zwischen 1983 und 1985. NN-Foto: Rüdiger Dehnen

Die Frage „Was ist Fotografie, wo endet diese und wo beginnt Kunst?“ lasse sich recht einfach beantworten, sagt Dr. Mann: „Das braucht man gar nicht mehr zu trennen, die Ausstellung zeigt, dass es ineinander übergeht, dass sich Ebenen überlappen.“
Neun Themenbereiche umfasst die Ausstellung in Goch. „Niedergang und Verfall“ beleuchtet die Zeit, als die Kohle- und Eisenindustrie an Bedeutung verlor und Arbeitsplätze verschwanden, vergleichbar der Entwicklung im Ruhrgebiet. „How we are“ ist ein Portrait der „einzigartigen Fremdartigkeit“ Großbritanniens, das geprägt sei von Humor, Zuneigung und Menschlichkeit. „Der Fotograf Daniel Meadows ist ab 1973 für 14 Monate in einem Doppeldecker-Bus durch das Land gereist und hat den Menschen kostenlose Portraits angeboten“, berichtet Goertz, „weit über 300 sind so entstanden.“ Aber ob nun Portrait oder Alltagssituation: „Es geht nicht um das Vorführen der Menschen; jeder ist mit einer gewissen Würde fotografiert worden; Fotografie ist ein Dialog.“

Weitere Themen sind die Thatcher-Ära mit eindrucksvollen Fotografien der privaten Lebens­umstände; Konsum – hier geht es um das Verhalten einer Gesellschaft im wirtschaftlichen Aufstieg und Fall und der Bereich Konflikt/Protest/Black Britain: Letzterer bildet das schwierige Thema Rassismus ab und zeigt die Anti-Rassismus-Bewegung der späten 1970er-Jahre. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind in diesem Zusammenhang die Impulse des „Black Britain“, hier wurde eigenen Themen eine künstlerische Stimme verliehen.

Specials fans, Rock Against Racism/Anti Nazi League Carnival Against the Nazis, Potternewton Park Leeds 1981. Foto: Syd Shelton

Zwei-Klassen-Gesellschaft/Identität greift die Ungleichheit in der britischen Gesellschaft auf und macht das Gefühl der Pers­pektivlosigkeit einer ganzen Generation sichtbar. Und schließlich Brexit/Migration: Der soziale Wandel der britischen Bevölkerung wird von Niall McDiarmid direkt und eindeutig beschrieben. Apropos Brexit: Die Ausstellung fällt in eine schwierige Zeit, wie Dr. Mann feststellt: „Es ist Wahnsinn, dass sich eines der Kernländer Europas abspaltet; vielleicht gelingt es der Kunst zu zeigen, dass sie grenzenlos ist.“ Und so wurde die zeitliche Klammer für die Fotografien bewusst von 1963 bis 2020 gesetzt; dem Zeitpunkt von Großbritanniens Eintritt in die Europäische Union bis zum nun geplanten Austritt.

„Facing Britain“ wird am morgigen Sonntag, 27. September, offiziell eröffnet und ist dann bis zum 8. November zu sehen. Aufgrund der Corona-Situation ist der komplette Sonntag als Eröffnunsgtag gedacht. Der Eintritt ist frei und Besucher erhalten eine Broschüre, die die Themen der Ausstellung komprimiert behandelt. Im Museum muss eine Mund-Nase-Bedeckung getragen werden. Bis zu 80 Personen dürfen sich gleichzeitig im Museum aufhalten, der Zugang wird über die Kasse geregelt.

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