KLEVE. „Ich glaube, meine Frau ist ganz glücklich, dass ich keine Bierkrüge sammle“, sagt Martin Wennekers. Der Mann sammelt Totenzettel. Derzeitiger Stand: plusminus 36.000. Man kann die Frau gut verstehen.

Zigarrenkisten

Wennekers ist 58 Jahre alt und von Beruf Diplom-Sozial-Pädagoge. Der Punkt ist gekommen, an dem zwischen Beruf und Berufung zu unterscheiden wäre. Alles begann mit dem Tod der Oma. „Ich habe damals begonnen, mich für Familienforschung zu interessieren.“ Dann kamen die Totenzettel. „Die wurden ja in obligatorischen Zigarrenkisten aufgehoben“, sagt Wennekers und irgendwann bekam er von einer Cousine seiner Mutter eine solche Kiste – zu guten Händen. Der Inhalt: Circa 100 Zettel. Der älteste Zettel stammte aus dem Jahr 1872.
Wenn Wennekers über Totenzettel spricht, geht es schnell auch um den Niedergang einer Kultur.

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Martin Wennekers vor seinen Karteikästen. Plusminus 36.000 Totenzettel hat er gesammelt. Foto: Rüdiger Dehnen

Früher …

„Früher“, sagt er, „gaben Totenzettel auch Auskunft über einen Menschen.“ Es ging um Familie, Beruf – irgendwie um ein ganzes Leben. Die Totenzettel wurden ins Gebetbuch gelegt und wenn man dann während eines Gottesdienstes darin blätterte, fand Gedenken statt. „Heute haben die wenigsten ein eigenes Gebetbuch“, sagt Wennekers. (Und manchen muss vielleicht auch erklärt werden, was ein Gebetbuch/Gesangbuch eigentlich ist.)
Wennekers jedenfalls muss fasziniert gewesen sein von diesen Zetteln und er ist es bis heute. Nein – es ist nicht die Faszination des Morbiden. Geschichte, denkt man, ist überall zu finden und Totenzettel sind ein Teil des Überalls. Sie sind Lebenstelegramme der besonderen Art.

Protokoll eines Schmerzes – Protokoll des Erinnerns

Wennekers und seine Frau haben zwei Kinder. Die Tochter ist 31, der Sohn … „wurde im Alter von 18 Jahren Opfer eines Verkehrsunfalls“. Ein Leben, ein Tod, ein Zettel. Schnell wird klar, dass ein kleiner Zettel von sehr großer Bedeutung sein kann. Man mag sich nicht vorstellen, wie aus einem, der Totenzettel sammelt, plötzlich einer wird, der sich Gedanken um den Totenzettel des eigenen Sohnes machen musste. Es ist ein „schöner“ Zettel geworden – man sieht und ahnt das Protokoll eines Schmerzes einerseits und spürt die Dokumentation des Erinnerns andererseits. Totenzettel, denkt man, sind ein kleines Stück Überleben.

Niederrhein und Bistum Münster

Zurück ins Sammeln. Wennekers Hauptgebiet: der Niederrhein und das Bistum Münster – vielleicht auch noch die angrenzenden niederländischen Provinzen. Zeit für ein ‚eigentlich‘. Zeit für Kategorien. Es geht (nie war ein ‚unter anderem‘ so wichtig) unter anderem um Soldaten, Päpste und Priester sowie Ordensleute. Eine irgendwie niederrheinische Mischung. Dann das ‚Aber‘. „Aber ich habe auch andere Totenzettel“, sagt Wennekers. Man fühlt sich, als würde man einen Trichter in umgekehrter Richtung ‚bereisen‘.

“Blüm hätte ich auch gern”

Wennekers hat unter anderem den Totenzettel von Helmut Kohl. „Ich habe damals einfach an die Gemeinde Speyer geschrieben und die gebeten, mir, falls möglich, den Totenzettel zu schicken.“ Den Totenzettel von Norbert Blüm hätte Wennekers auch gern. Geschrieben hat er schon, aber eine Antwort lässt noch auf sich warten. JFK hat er auch. Franz-Josef Strauß‘ Totenzettel hat ihn drei Euro gekostet. „Das war das einzige Mal, dass ich einen Totenzettel gekauft habe“, sagt Wennekers.

Viel Militaria

Als er mit dem Sammeln anfing, waren Totenzettel noch kein großes Thema. Das hat sich geändert. „Es gibt heute sehr viele Sammler. Ich schätze, dass weit über 90 Prozent von denen Militaria sammeln. Der Totenzettel eines in Stalingrad gefallenen Soldaten kann bei Ebay bis zu 40 Euro kosten.
Zurück ins Kerngebiet. Wie kommt man an die Zettel? „Ich lege teils in Kirchen Flyer aus und arbeite auch mit dem Kolpinghaus in Kleve zusammen.“ „Totenzettel – ein Stück Familiengeschichte geht verloren. Niederrheinische Totenzettelsammlung im Aufbau“ ist das Faltblatt überschrieben. „Totenzettel – auch Sterbezettel, Sterbebildchen und im Niederländischen bidprentjes genannt – sind in der heutigen Form erst im 18. Jahrhundert entstanden. Im Grunde genommen ist der Totenzettel nichts anderes als eine künstlerische Nachahmung der Todesanzeige“, erklärt Wennekers und ergänzt: „Das älteste bisher bekannte kleine Andachtsbild stammt aus dem Jahr 1250 und wurde im Kloster Winhausen entdeckt.“

Anfänge im Bruderschaftswesen

Dr. Peter Löffler, Oberarchivrat des Bistumsarchivs Münster: „Die Anfänge der Totenzettel sind im Brauchtum des kirchlichen Bruderschaftswesens zu suchen. Dort war es, mindestens seit dem 17. Jahrhundert üblich, mittels vorgedruckter Zettel (bei denen nur noch der Name des Verstorbenen einzutragen war) die Mitglieder der Bruderschaft zur gemeinsamen Totenfeier […] einzuladen.“ Wennekers – das wird schnell klar – tut weit mehr als Totenzettel zu sammeln und zu katalogisieren. Da ist einer, der im Lauf der Jahre auch zum Sammler von Kenntnissen geworden ist. Längst sind alle plusminus 36.000 Totenzettel in eine Datenbank eingetragen, wo sie alphabetisch sortiert abgerufen werden können. Wennekers nächstes Etappenziel: „Ich werde sämtliche Zettel meiner Sammlung einscannen.“

Auch päpstliche Totenzettel gehören in die Sammlung. Foto: Rüdiger Dehnen

Demnächst – vielleicht – eine Internetseite

Danach – das wäre der Idealfall – könnte es dann eine Internetseite geben.
Wer wie Wennekers Wissen und Material angehäuft hat, erreicht fast immer einen Punkt, an dem es um Weitergabe geht. Fast traut man sich nicht zu fragen – dann tut man‘s doch. Hat einer wie Wennekers auch Totenzettel von berühmten Menschen abseits von Politik und Kirche? Hat er: Peter Alexander, Udo Jürgens, Ottfried Preußler. Aber er hat eben auch die Totenzettel der letzten elf Päpste und den Totenzettel von Clemens August Graf von Galen.
In einem Text „Über die Entstehung und Bedeutung der Totenzettel“ schreibt Wennekers am Ende: „Ich persönlich hoffe, dass dieser alte Volksbrauch erhalten, gepflegt und erneuert wird. Zu erreichen ist Martin Wennekers unter Totenzettel1@web.de oder über das Kolpinghaus Kleve, Kolpingstraße 11 in Kleve.

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