Stichwort: Schokolade

Nur mal angenommen: Vier Männer überfallen einen Drogeninhaber und -anbauer. Bei dem Überfall wird Gras erbeutet: Drei Kilo – dazu noch 30 Stangen Zigaretten und über 2.000 Euro aus einem Portemonnaie. Das Opfer wird niedergeschlagen und mit einem Stock bedroht … Nur mal angenommen: Der Drogeninhaber und -anbauer ruft die Polizei und meldet einen Überfall. Was soll er sagen? „Die haben meine Drogen geklaut“?
Vier Straftäter überfallen einen anderen Straftäter – berauben ihn, bedrohen ihn und seine Frau, bringen Geld, Zigaretten und Drogen an sich. Die Dinge verketten sich. Das Opfer bleibt Opfer – ist aber irgendwie auch Täter … an anderer Stelle. Später wird der Vorsitzende Richter sagen: „Herr. W. [das Opfer, Anm. d. Red.] ist auch Täter, aber er ist als Mensch wie alle anderen schützenswert.“

Die Presseankündigung

Strafverhandlung gegen vier Angeklagte im Alter zwischen 20 und 28 Jahren wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung. Laut Staatsanwaltschaft fuhren die Angeklagten am 29. September 2019 […] zum Haus der Zeugen, die sie aus vorangegangenen Drogenkäufen gekannt haben sollen. Dort sollen sie zunächst einen Zeugen, welcher ihnen eine Probe Marihuana gezeigt habe, mehrfach geschlagen und dann mit einem etwa 50 Zentimeter langen Stock gegen den Kehlkopf gedrückt haben, damit dieser den Aufbewahrungsort von Geld und Wertgegenständen nennt. Beide Zeugen sollen sodann durch Kabelbinder an Händen und Füßen gefesselt worden sein. Laut Staatsanwaltschaft haben die Angeklagten drei Kilogramm Marihuana, 2.400 Euro Bargeld und 30 Zigarettenstangen an sich genommen.

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Stichwort: Schokolade

Geschichten wie diese muss niemand erfinden. Sie müssen nicht bei einem Drehbuchautor bestellt werden. Es reicht, zum Gericht zu gehen und zuzuhören. Zeit zum Wundern ist immer. Die vier Angeklagten räumen die Tat ein. Sie haben Herrn W. und dessen Frau aufgesucht und sich als Kunden ausgegeben, haben eine Probe bekommen (waren übrigens zwei Tage zuvor schon in kleiner Besetzung in W.s Wohnung, um die Lage auszukundschaften) und haben W. dann am Tattag drei Kilo Gras und Geld aus einem Portemonnaie gestohlen. Stichwort: „Schokolade“. So war es ausgemacht. Auf das Stichwort hin, „habe ich dem die Faust gegeben“, bekennt einer aus dem Quartett. Er sollte ursprünglich nur als Fahrer fungieren, aber weil er von imposanter Statur ist, hat man ihn mit ins Haus genommen.

Ein Stock – eine Waffe

Einer der Täter soll dem Opfer einen Stock gegen den Kehlkopf gedrückt haben, um ihn so zur Preisgabe des Drogenverstecks zu zwingen. Er hat den Stock nicht gegen W. eingesetzt, sagt der Mann. Während zwei aus dem Quartett sich (oben im Haus) ‚um W. kümmern‘, begeben sich die beiden anderen, als W. um Hilfe ruft, nach unten, um dessen Frau in Schach zu halten.
Die Täter: Drei von ihnen sind jedenfalls kein unbeschriebenes Blatt mehr. Sie haben ein Kerbholz – hatten nicht zum ersten Mal mit der Justiz zu tun und haben bereits Haftstrafen verbüßt. Der Vierte im Bunde – er hat dem Opfer „die Faust gegeben“ – ist vorher nie auffällig geworden. Der Richter verliest ein Zeugnis des Arbeitgebers und man fragt sich: Wie kann das sein? Wie passt dieser Täter zu seiner Tat? Geldnot vielleicht? Er ist auch der einzige im Quartett, der mit Drogen „nichts am Hut“ hat. „Weiß ihr Arbeitgeber von diesem Verfahren?“, fragt der Vorsitzende. „Ja, natürlich“, antwortet die Anwältin. Jeder der Angeklagten wird durch einen anderen Anwalt vertreten. In aller Ruhe fragt sich der Vorsitzende durch die Lebensläufe und die Tat. Dann erscheint das Opfer.

Opfer – Täter

An Krücken betritt der Mann den Saal. Da ist einer, der „alles sagen“ will. Er hat sich selbst angezeigt. Und: Er ist mit sich im Reinen. Zu Drogen hat er ein irgendwie entspanntes Verhältnis. „Wenn Sie Besuch bekommen, bieten Sie denen ja vielleicht ein Bier an“, erklärt er dem Vorsitzenden. „Bei mir gibt es stattdessen einen Joint.“ Das Opfer baut sein Gras selber an. Es geht um Schmerzbekämpfung. „Ich hatte einen Arbeitsunfall.“ Das Zeug ist in den Apotheken einfach zu teuer. („Das sind doch auch alles nur Dealer.“)
Das Opfer – eine Sprechblase: Vom Vorsitzenden einmal „angestochen“, explodiert er irgendwie in den Saal hinein. Die Täter: Lumpen. Allesamt. Idioten auch. „Die werden euch dran kriegen“, sagt er und droht mit dem Zeigefinger. Immer wieder muss der Vorsitzende den Zeugen „einfangen“. „Herr W., ich bin hier“, tönt es von der Richterbank. Der Zeuge ist derweil mit seinem Blick bei den Angeklagten. Er legt sich immer wieder mit ihnen an – beschimpft sie und greift dabei unten ins Regal: „Der da“, er zeigt auf einen der Vier, „der da ist ja auf der Sonderschule gewesen. Nichts gelernt.“ Zu einem anderen der Vier sagt er: „Du schlägst ja sogar deine Mutter.“ Gut, dass sechs Justizwachtmeister im Saal sind, denkt man. Man habe ihn, so der Zeuge, bedroht, geschlagen, ausgeraubt. Als an einer Stelle die Verteidigerin eines der Angeklagten Sachlichkeit anmahnt, platzt es aus W. heraus: „Sie machen ja nur ihren Job, aber dass man ‚so was‘ verteidigen muss …“ (Mit ‚so was‘ meint er die Angeklagten.)

???

„Zu dritt sind die gewesen“, sagt er. In einem Comic stünde jetzt: (????) Die Angeklagten hatten doch zugegeben, alle vier gleichzeitig das Haus betreten zu haben. Sie waren zunächst alle oben.
Erst nach dem Faustschlag (Parole „Schokolade“) haben sich zwei von ihnen nach unten begeben. Auch die Frau des Zeugen bringt es nur auf drei Täter. Die Differenz bleibt ungeklärt. Einer der Täter hat ihm, erzählt der Zeuge, auf sein Bitten hin, etwas zu trinken gegeben – hat ihn, der sich kaum rühren konnte, im Sessel zurechtgerückt. „Das fand ich moralisch.“
Dann beschließt der Zeuge, dass es jetzt genug ist: „Ich bin dann fertig. Ich hab‘ alles gesagt. Ich geh jetzt“, kündigt er an und wird schnell noch einmal laut: „Das System“ hat ihn im Stich gelassen. Er kann sich das Gras nicht leisten. Was soll er machen? In Holland ist es günstiger. In Deutschland: Viel zu teuer. Jetzt ist er schon ein Doppelopfer. Der Gedanke, dass der Anbau von Marihuana strafbar ist, liegt abseits dessen, was ihn zu interessieren scheint. Opfer bleibt er trotzdem und man möchte, was er erlebt hat, nicht nacherleben müssen.

Der Unterschied

Der zweite Verhandlungstag ist der Tag der Plädoyers und der Tag des Urteils. Es ist der Tag, an dem unterschiedliche Auffassungen deutlich werden. Da ist der Staatsanwalt und da sind die Verteidiger. Spätestens nach dem Plädoyer des Staatsanwalts weiß jeder im Saal: Es geht nicht um Kleinigkeiten. Für das Gesetz ist ein Stock eine Waffe. Kommt sie zum Einsatz, wird aus einem Raub ein besonders schwerer Raub. Die Einstiegshöhe des Strafmaßes beträgt dann fünf Jahre. Hätten die Angeklagten von dem Stock gewusst, hätten sie seinen Einsatz geplant oder in Kauf genommen, würde sich für alle das Strafrahmenfenster bei fünf Jahren öffnen. Jetzt ist die Lage folgende: Nur einer der vier hat den Stock – spontan und ohne Zustimmung oder Billigung der anderen – gegen den Kehlkopf des W. eingesetzt. Woher der Stock kam, bleibt irgendwie unklar. Unbeweisbar, dass der Stock mit zum Tatort gebracht wurde. Eingesetzt wurde er. Das ist nicht irgendetwas. Der Staatsanwalt beantragt sieben Jahre und sechs Monate für den Angeklagten, der den Stock einsetzte. Das ist schweres Geschütz.

Der Paragraf 250: Schwerer Raub

Zur Bewährung

Sechs Jahre und drei Monate soll der 2. Täter bekommen. Er gehört zu den beiden, die unten im Haus die Frau des Opfers in Schach hielten. Beim dritten Täter geht es darum, ob er nach Jugend- oder nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden soll. Der Staatsanwalt ist der Ansicht, dass dem jungen Mann (zur Tatzeit war er 20 Jahre alt) mit dem Jugendstrafrecht nicht beizukommen ist. Sechs Jahre, drei Monate. Es bleibt der Vierte: ohne Vorstrafen ist er aber eben auch der, der das Opfer niederschlug. „Gesungen“ hat er wie ein Vogel. Zwei Jahre – auszusetzen zur Bewährung. Die Bewährungszeit: drei Jahre.
Dann schlägt die Stunde der Anwälte. Für den Täter, der den Stock eingesetzt haben soll, bittet die Verteidigerin um eine erheblich mildere Strafe und die Aufhebung des Haftbefehls. Die Aussage des Opfers: unglaubwürdig. Ihr Mandant hat den Stock in der Hand gehabt, aber nicht eingesetzt.
Die zweite Verteidigerin lobt die differenzierten Betrachtungen des Staatsanwalts. Dann rückt sie mit dem Aber an: Die geforderte Strafe passe nicht zu den Ausführungen. Eine Waffe war nie Teil des Plans. Ihr Mandant war unten im Haus. Sie fragt, wer eigentlich wann den Stock gehabt hat und findet es „bemerkenswert”, dass der Stock nie gefunden wurde. Eine Strafe zwischen drei und vier Jahren ist das Maximum dessen, was ihrer Meinung nach verhängt werden kann. Der Haftbefehl: außer Vollzug zu setzen.

Jugendstrafrecht

Für seinen Mandant, so der Anwalt des jüngsten der Angeklagten, müsse das Jugendstrafrecht Anwendung finden. Es sei da sehr wohl noch etwas zu machen – sehr wohl noch etwas zu erreichen. Sein Mandant – der einzige, den man in Fußfesseln vorgeführt habe. Warum? Er habe in der Vollzugsanstalt gesagt: „Wenn das Urteil mir nicht passt, hau ich ab.“ Ein Beweis für fehlende Reife. Eine milde Strafe – ausdrücklich ins Ermessen des Gerichts gestellt.
Die Anwältin des „Sängers“ kann sich kurz fassen. Man müsse diskutieren, was ein minder schwerer Fall sei. Ihr Mandant – nur kurz in Untersuchungshaft gewesen – gehe wieder seiner geregelten Arbeit nach. Sie erbittet eine Strafe mit Augenmaß.
Die Angeklagten haben das letzte Wort: Ihnen tut leid, was sie getan haben. Man glaubt ihnen anzumerken, dass die vom Staatsanwalt geforderten Strafen sie niederdrücken – bleierne Platten, die sich auf das Leben schieben.

Finale

Dann das Finale. Die Kammer offenbart ihre Sicht der Dinge und verhängt Strafen unterhalb dessen, was der Staatsanwalt gefordert hat. Sechs Jahre werden es für den Angeklagten, der „nach Auffassung der Kammer den Stock nicht nur in der Hand gehalten, sondern auch gegen den Kehlkopf des Opfers eingesetzt hat“. Damit bleibt die Kammer ein Jahr und sechs Monate unter dem Antrag des Staatsanwalts.
Vier Jahre und zehn Monate werden es für den Jüngsten im Quartett. Man habe sich der Auffassung der Jugendgerichtshilfe angeschlossen und infolge einer Reifeverzögerung Jugendstrafrecht angewendet. Dass es dann doch vier Jahre und zehn Monate werden, hat mit einem bereits vorher von einem anderen Gericht gesprochenen Urteil zu tun. Vier Jahre werden es für den Zweiten der beiden, die die Frau des Opfers in Schach hielten. Der Vierte im Bunde – ursprünglich nur als Fahrer vorgesehen – bekommt zwei Jahre, die zur Bewährung ausgesetzt werden.

Ein Gefährliches Werkzeug

Der Vorsitzende spricht von einer geplanten, durchdachten Tat, die trotzdem „Züge von Dämlichkeit“ trage. „Sie haben keinen Gedanken darauf verschwendet, dass Ihr Opfer die Polizei rufen könnte.“ Dann der Satz: „Ja, auch das Opfer ist ein Straftäter, der aber als Mensch schützenswert ist.“ Ja, denkt man. Genau das ist es. „Sie alle waren sich darüber im Klaren, dass das ein Raub werden würde und dass Sie mit Gewalt auf das Opfer einwirken.“ Der Stock: ein gefährliches Werkzeug, mit dessen Einsatz im Bereich des Kehlkopfes schwere Schäden angerichtet werden können. Drei der Täter sind vorbestraft, zum Teil bereits in ähnlichen Deliktsbereichen. Die Bewährung für den Vierten im Bunde: keineswegs eine Selbstverständlichkeit.
„Sie können gegen dieses Urteil das Rechtsmittel der Revision einlegen“, klärt der Richter die Parteien auf. Schwer liegt der Tag im Saal.

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