NIEDERRHEIN. Argentinien, das Land an der Südspitze des amerikanischen Kontinents, ist das achtgrößte Land der Erde und bietet Reisenden in Sachen Landschaft und Kultur reichlich Abwechslung: Die unendliche Weite der Pampa, tropischer Regenwald, der berühmte Tango, schmackhafter Mate-Tee, wuchtige Kolonialbauten, das wilde Feuerland. Elena und Henry Kleipaß aus Rees machten sich Anfang März auf den Weg dorthin, um Verwandte zu besuchen. Da ahnten sie noch nicht, wie abenteuerlich sich ihre Reise in Zeiten der Corona-Krise gestalten würde.

Freitag, der 13. März: Siesta. Henry Kleipaß genießt bei rund 30 Grad im Schatten die Ruhe und macht es sich mit seinem Laptop gemütlich. Zeit, um Mails zu checken und Nachrichten zu lesen. „Wir hatten für Samstag einen Besuch bei Elenas Cousins und Cousinen geplant“, erinnert sich der Arzt an den Moment, als ihm klar wurde, dass daraus wohl nichts werden würde. Denn an diesem Tag hatte die argentinische Regierung beschlossen, ab der kommenden Woche alle Flüge von und nach Europa auszusetzen.

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Rückflug am Mittwoch?

Der Rückflug für die Eheleute wäre regulär am Mittwoch gewesen. Ein kurzer Check – keine Nachricht von der Fluggesellschafft. „Ich hätte damit gerechnet, dass man uns sofort informiert. Schließlich hat die Gesellschaft vorab ständig Mitteilungen verschickt, etwa um uns mitzuteilen, dass der Flug zehn Minuten später geht oder ab wann man sein Gepäck aufgeben kann.“ Zu diesem Zeitpunkt befanden sich die beiden Reeser in Rosario, am westlichen Ufer des Paraná, etwa 300 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Buenos Aires. „Da kam schon eine gewisse Unruhe auf“, sagt Henry Kleipaß.

Dieses Gefühl nahm zu, als die Internetseite der spanischen Fluggesellschaft plötzlich nicht mehr erreichbar war. Als schließlich doch noch dank verschiedener Foren geklärt werden konnte, dass der Rückflug gecancelt, der Anschlussflug von Madrid nach Düsseldorf aber noch stattfinden sollte, hatte man bereits die Koffer gepackt und sich nach Möglichkeiten erkundigt, wie man auf dem schnellsten Weg in die Hauptstadt gelangen könne.

Auf dem schnellsten Weg nach Buenos Aires

Jetzt wurde es hektisch. Samstagmorgen ging es per Überlandbus nach Buenos Aires und dann gleich zum Büro der Airline. Doch das Büro in der Stadt war geschlossen. Nächster Halt: Flughafen. „Da warteten sehr viele verzweifelte Menschen, die alle zurück nach Europa wollten.“ Auch am Schalter der Fluggesellschaft herrschte reger Betrieb. Nach zwei Stunden Anstehen die knappe Botschaft: Wir können nichts für euch tun. „Man gab uns aber noch den Tipp, dass am Montag das Büro in der Stadt wieder aufmachen und man dort einen Gutschein für den gestrichenen Flug erhalten würde.“

Für Elena und Henry Kleipaß ein schwacher Trost. Also versuchten sie, bei einer anderen Gesellschaft zu buchen. Vergeblich. Das Problem: Man war auf Bargeld angewiesen, und das stand zwar zur Verfügung, allerdings in drei unterschiedlichen Währungen. „Wir hatten argentinische Peso, amerikanische Dollar und Euro“, erklärt Kleipaß. Umtauschen wollte man in Dollar. Das ging aber nicht. Nach endlosem Hin und Her und unzähligen Telefonaten die erlösende Nachricht: Ein Neffe von Elena hatte online einen Flug für die beiden buchen können. Kleine Anekdote am Rande: Eben dieser Neffe war einige Tage zuvor vorzeitig von seiner Hochzeitreise zurückgekehrt und befand sich in selbst auferlegter Quarantäne – die frisch Vermählten hatte es nämlich ausgerechnet nach Italien verschlagen.

Drei Stunden später…

Und weil der Flieger erst am späten Montagabend abheben sollte, nahm man sich in Ermangelung von reizvolleren Alternativen vor, doch noch einmal im Büro der eigentlich zuständigen Fluggesellschaft vorbeizuschauen. „Als wir dort ankamen, war die Schlange ungefähr 100 Meter lang. Auf unserem Zettel stand die Nummer 60.“ Drei Stunden später verzichteten die Kleipaß‘ schließlich doch noch auf den Gutschein. Der sollte nämlich erst fünf Tage nach Ausstellung gültig werden. „Da dann aber garantiert kein Flugzeug mehr in Richtung Europa abheben würde, weil der komplette Flugverkehr ab Dienstag ruhen sollte, war uns das ziemlich egal“, sagt Henry Kleipaß und kann nur mit dem Kopf schütteln. „Das Krisenmanagement hat auf jeden Fall nicht funktioniert“, sagt er und betont: „Das war definitiv das letzte Mal, dass wir da gebucht haben.“ Eine Nachricht über den gestrichenen Rückflug haben die Kleipaß‘ übrigens bis heute nicht erhalten…

Gespenstische Leere in Madrid

So sieht es am Flughafen in Madrid aus, wenn beinahe alle Flüge gestrichen sind. Fotos: privat

Während sich das Chaos in Buenos Aires (abgesehen von den Ausreisebemühungen der Nicht-Argentinier) zu diesem Zeitpunkt noch in Grenzen hielt und das Leben im Großen und Ganzen seinen gewohnten Gang nahm, gestaltete sich die Ankunft am Flughafen in Madrid eher gespenstisch. „Das ist schon ein komisches Gefühl, wenn so ein großes Drehkreuz plötzlich wie ausgestorben ist“, sagt Henry Kleipaß. Eigentlich sei ihm erst in diesem Moment die ganze Tragweite der Krise bewusst geworden. „Man sah nur vereinzelt Leute, alle Geschäfte hatten zu.“ Einzig ein Automat für Kaltgetränke und einer mit Kaffee standen noch zur Verfügung. Die beiden Reeser hatten sich darauf eingestellt, Dienstagnacht am Madrider Flughafen zu verbringen, hatten dann aber schlichtweg Glück. „Da gab es eine Reihe von Maschinen, die nach Deutschland gingen – und eine davon hatte noch Platz für uns.“

Corona anfangs kein Thema

Heute sagt Henry Kleipaß: „Als wir am 1. März aufgebrochen sind, war überhaupt nicht abzusehen, dass sich das Ganze so dramatisch entwickeln würde.“ Zu diesem Zeitpunkt waren scheinbar weder Nord- noch Südamerika betroffen. Auch vor Ort sei Corona anfangs kein Thema gewesen. Dass die Regierung in Argentinien sehr schnell handeln musste, liegt für den Arzt auf der Hand. „Die medizinische Versorgung dort ist schlecht. Es gibt zwar ein durchaus funktionierendes Gesundheitssystem, aber mit weniger Rücklagen und Möglichkeiten, als es bei uns der Fall ist“, weiß er. Gerade in den Ballungsgebieten, in denen die Menschen allein schon aus wirtschaftlicher Not auf Mobilität angewiesen seien, könne sich das Virus ohne drastische Maßnahmen in kürzester Zeit verbreiten.

„Natürlich machen wir uns jetzt auch Sorgen um die Familie“, sagt Kleipaß, der seine Frau 1982 in Argentinien kennengelernt hat. Seit 1986 wohnen die beiden wieder in Deutschland, seit 2001 in Rees. .„Wir haben es in den vergangenen zehn Jahren immer wieder verschoben, aber die Kinder waren 2019 noch drüben“, erzählt er, wie wichtig ihnen der Kontakt zu Elenas Familie über die ganzen Jahre gewesen ist. Dass das lang geplante Wiedersehen derart abrupt enden würde, damit hatte wohl niemand gerechnet. Dass es nicht das letzte Mal gewesen ist, davon geht die Familie allerdings aus. Und dann darf es auch gern ein bisschen weniger turbulent werden.

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