Draußen in der Mitte – Fußball im Rathaus

Anreise

Vielleicht mit einem Zitat beginnen. Zitate sind ja eine Art von Leihintelligenz. Kluge Menschen haben kluge Dinge zu fast allem gesagt. Wer einen Klugen kennt, ist vielleicht selber ein bisschen klug. Ist Fußball gucken Sport? Nein – kein Zitat. Lieber eine Beschreibung. Eine Beschreibung, Lieber …

Warmlaufen

Wenn ein Schreiber über Bilder nachdenkt, taucht die Frage auf, ob sie – die Bilder – eine Grammatik haben. Fest steht: Sie haben eine Seele. Ein Wesen. Einen Kern. Und wenn sie eine Bildsprache sprechen, gibt es dann auch Dialekte? Ist ein Bild ein Satz? Eine Abhandlung? Ein Roman? Ist es eher Frage oder eher Antwort? Ein Bild, wird behauptet, sagt mehr als 1.000 Wörter. Natürlich stimmt das nicht. Nicht immer jedenfalls. Es hängt vom Gedanken ab.

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Anstoß

Christoph Buckstegen ist ein Fan – einer, der mal eben nach Neapel fliegt, um dann während eines Spiels draußen vor dem Stadion seine Runden zu drehen und Fotos zu machen, während für die anderen im Stadion das eigentliche Leben stattfindet. Fußball ist mehr als Fakten.

Was erlauben Buckstegen?

Was ist eigentlich Sportfotografie? Mindestens doch das: Publikum. Sportler. Szenen. Himmelhochjauchzendzutodebetrübt. Einer wie Buckstegen betreibt Archäologie. Er kümmert sich um die Spuren des Gewesenen – um den Rest, der mehr ist als ein Rest. Sein Präparierpinsel: die Kamera. „Was erlauben Buckstegen?”

Foto: Christoph Buckstegen

Tief stehen

Da fängt einer ein, womit man nicht rechnet. Fotografiert man so die Liebe zum Sport? Die Antwort „Nein“ ist nur so lange gültig, bis einer kommt und „Fußball unsichtbar” fotografiert.
Kürzlich – auf der Frankfurter Buchmesse – wurde ein Computerprogramm vorgestellt, das den Verlagen das Lesen ersparen oder zumindest dabei behilflich sein soll, Bestseller zu erkennen. Bestseller erkennen? Kein Problem. Solange alle im Strom schwimmen, funktioniert das. Aber das, was uns wirklich interessiert, sind neue Ansätze. Ansätze, wie Buckstegen sie liefert: die andere Sicht auf die Dinge.

Zeitlupe

Man fragt sich, welche Position einer wie er spielen würde auf dem Platz. Wäre er Torwart? (Die letzte Rettung vor dem Abstieg.) Wäre er Stürmer? (Ein Jäger des Erfolges.) Wäre er Verteidiger? Die Aufgabe des Verteidigers ist ja die Verunmöglichung der Angriffsziele des Gegners. Schiedsrichter vielleicht? Nichts von alledem. Dann taucht der Gedanke auf. Fußball bedeutet immer, zur einen Hälfte Gegner zu sein und zur anderen: Gegner zu haben.

Tackling

Buckstegens Bilder passen nicht ins Schema von daheim und auswärts. Und schon gar nicht ins Gegnerdenken. Vielleicht ist er der Kommentator. Ein Kommentator ohne Text. Buckstegen braucht keinen Text. Er hat ja die Bilder. Er muss nicht kämpfen. Nicht gewinnen. Er muss notieren. Eintauchen: Annäherung durch Abstand.

Freistoß

Wie man Fußball fotografiert, hängt natürlich davon ab, wie man Fußball definiert. Da kommt einer, der die Seele an anderen Stellen sucht. Eben da liegen Herausforderung und Gefahr. Natürlich wollen Sportfans die Idole sehen, das Spielgerät, die Dramatik. Dann ist es Sport. Nicht-Fans kommen erst gar nicht, wenn einer „Fußball unsichtbar” fotografiert. Das Buckstegen-Paradox ist schnell erklärt. Da verunsichert einer die Fans („Wie jetzt? Fußballbilder ohne Fußball?“) und baut eine Wortbarriere für alle, die der Ansicht sind, Sportfotografie sei keine Kunst. („Fußballbilder? Muss ich nicht gucken.“) Am Ende hat er beide auf seine Seite gezogen. Das liegt an der Qualität der Bilder.

Abseits

„Fußball unsichtbar“ – ein Titel. Es sind Buchstaben. Wörter. Aber: es geht ja nicht um Wörter. Es geht um Bilder. Buckstegens Welt ist eine Transformationsmaschine. Er seziert, präpariert, kommentiert und bleibt trotzdem Fan – behält den Blick für das Großeganze. Dieser Blick speist sich aus den Kleinigkeiten. Buckstegens Fußballerzählungen sind manchmal Kurzgeschichten – manchmal auch Romane … aber vor allem sind sie Gedanken. Erinnerungen. Besichtigungen. Erfahrungen. Umarmungen. Bilddenken. Buckstegen ist unterwegs. Das Motto: draußen in der Mitte.

Angriff

Ein Buckstegen-Bild setzt sich nicht durch Worte im Gehirn fest. Es ist irgendwie ganz Gefühl. Zuerst jedenfalls. Dann wird es zum Gedanken. Obacht: Gute Kameras machen keine guten Bilder. Sie können hilfreich sein. Wer eine Stradivari besitzt, muss längst noch nicht Geige spielen können.
Ist Buckstegen ein Virtuose? Ja, ist er. Liebhaber ist er auch. Vielleicht gehört das dazu. Es braucht Kenntnis, Liebe, Begeisterung, Wissen. Buckstegen bringt das mit. Er ist Fan. Fan der alten Schule. Als Fotograf musst du die Gabe haben, die Welt anzuhalten – zum richtigen Zeitpunkt. Du musst wissen, wann du die Schockgefriertaste drückst. Fotografie ist angehaltenes Hinsehen. Schreiben ist angehaltenes Denken.

Auswechslung

Fotografieren ist kein Mannschaftssport. Wer mit der Kamera ausrückt, ist Trainer, Spieler, Schiedsrichter und Publikum in einer Person. Niemand hilft. Du kannst nicht Fußball spielen, wie ein Pianist Brahms spielt. Die Partitur Fußball wiederholt sich nicht. Kein Stück wird zwei Mal aufgeführt. Buckstegens Bilder sind kein Fußballvokabelheft. Sie sind zurückgeschraubte Wirklichkeit. Notizen. Skizzen. Die Verlängerung eines Buckstegen-Spiels findet im Kopf statt. Wiederholungen, Zeitlupen, Analysen – alles ist in das Stadion der eigenen Wahrnehmung ausgelagert.

Vorteil

Bei vielen von Buckstegens Bildern fragt man sich, ob sie einen Ton haben. Fest steht: Es lärmt nicht aus ihnen. Die Fußballszenen schreien einem nicht hinterher, aber sie wirken nach und erzeugen ein bleibendes Echo, eine private Tonspur. Sie sind Aufforderungen, das Abseits anders zu definieren. Sie werden bei jedem Hinsehen besser, weil sie ihre Intensität zu steigern scheinen. Sie schleichen sich ins Hirn und hinterlassen Sprachlosigkeit hier, Staunen dort – Melancholie, Zärtlichkeit. Am Ende verschwinden sie ins Tonlose und lösen sich auf ins Gedachte. Draußen in der Mitte.

Foto: Christoph Buckstegen. Sammlung LVR-Industriemuseum Oberhausen

Zweite Halbzeit

Die Bilder, die mehr sagen als 1.000 Worte, hinterlassen Geschichte und Geschichten. Buckstegen ist einer, der Abwesenheiten verlautbaren kann. Theater kann man auch erzählen, indem man eine leere Bühne zum Sprechen bringt – Fußball, indem man auf das Davor und das Danach schaut. Buckstegens Bilder sind nicht loszulösen vom unsichtbaren Drumherum.
Wenn einer wie er den Hintergrund ins Bild rückt, findet eben da der Blick in die Seele statt, aber der Fotograf hat sich spezielle Seelen ausgesucht. Fußball ist mehr als Fakten, so, wie eine Ehe mehr ist als der Trauschein, der sie beurkundet. Buckstegen stellt Treffpunkte zur Verfügung. In Ohnmacht, Rausch, Trauer und Euphorie.

Unentschieden

Einer wie er ist schon als Kind fußballerisch sozialisiert worden. Buckstegen hat Fußball in Mönchengladbach gelernt. Damals. 70 Prozent Stehplätze. Wenig Dach. Viel Zug. Und: Viel Leben. Viel Echtigkeit. Klar: Auch damals war die Welt nicht in Ordnung. Aber sie war anders nicht in Ordnung.

Abpfiff

„Kannst du was sagen zur Eröffnung?”
„Ja, kann ich. Vielleicht. Wenn du den Bock zum Gärtner machen möchtest.”
„Keine Lobhudeleien.”
„Keine Sorge.”
Was Buckstegen gesehen und festgehalten hat, ist wortlos wertvoll. Es lebt: Vom Hinsehen. Vom Hinfühlen. Gute Bilder sind wie eine gute Geige: Der Klang wird besser mit der Zeit. Bilder halten etwas fest. Sie sind, schon wenn der Auslöser gedrückt wird, Vergangenheit. Anker. Dokument. Zeugnis. Erinnerung. Schwebehilfen. Sie haben kein Haltbarkeitsdatum. Bilder, auch das ist wichtig, brauchen uns. Wenn niemand hinsieht, gibt es kein Bild. Nicht im Kopf. Nicht in der Kamera.

Flasche leer

Buckstegen ist einer von denen, die Abwesenheiten verdeutlichen können. Eben das macht seinen Erzählstil aus. Seine Kompositionen hinterlassen eine Spur im Hirn und erzählen unterschiedliche Geschichten nach dem Motto: Erst die Hornhaut, dann die Hirnhaut. Ich besitze eines von Buckstegens Fußballbildern. Es ist das Kassenhäuschen. Jeden Tag grüßt es mich. Jeden Tag erzählt es eine andere Geschichte. Manchmal lächle ich. Manchmal werde ich traurig. Vielleicht, denke ich, sind Bilder wie Stadien: Ohne Publikum werden sie zu Ruinen.

Foto: Chrstoph Buckstegen. Sammlung: LVR-Industriemuseum Oberhausen

 

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