Das Leben danach

Johannes Dinnessen ist zufrieden mit seinem Leben – einer, der in sich ruht. Im Dezember ist Geburtstag, dann wird Dinnessen 83. Im September `44 war Dinnessen gerade einmal acht Jahre alt – der jüngste von sieben Jungs. Geboren in Kranenburg, der Vater Holländer. „Mein Vater war Waldarbeiter, aber zuhause hatten wir eine Kuh und drei oder vier Schweine – ich weiß nicht mehr genau, wie viele Schweine es waren.“ Genug jedenfalls zum Leben. Dinnessens Mutter – eine lebensfrohe Frau.

Drei Wochen

All das änderte sich innerhalb von drei Wochen im September 1944. Am 17. September schlug eine Brandbombe im hinteren Teil des Hauses an der Schrammstraße (siehe Pfarrchronik) ein. „Mein Vater wollte das Vieh aus dem brennenden Stall retten. Dabei traf ihn ein brennender Balken. Vater Lambert, Jahrgang 1892, überlebte es nicht. Auch Dinnessens Bruder Gerhard starb an diesem Tag. „Das sind Bilder, die du nie vergisst“, sagt Johannes Dinnessen. „Natürlich lässt das mit der Zeit nach, aber wenn ich darüber nachdenke und davon erzähle, sind die Bilder wieder da.“
Am 1. Oktober 1944 traf ein weiterer Schickalsschlag die Familie. Dinnessens Bruder Theodor wurde von einem Granatsplitter im Unterleib getroffen. Er verblutete und starb in den Armen seiner Mutter. „Ich höre ihn noch sagen: Moder, eck sin doot.“, erinnert sich Dinnessen. Und wieder ist da dieser Satz von den Bildern, die man nicht los wird. Heute würde ein Trauma diagnostiziert, man würde von Flashbacks, von einer posttraumatischen Belastungsstörung sprechen – eine Trauma-Ambulanz aufsuchen, Hilfe bekommen. All das fand damals nicht statt. Die Menschen war allein mit ihren Schmerzen. Dinnessens Frau Brigitte („Sie war meine erste Liebe“) erinnert sich an ihre Schwiegermutter. „Sie war eigentlich eine lebensfrohe Frau, aber ich habe sie nie in heller Kleidung gesehen. Sie trug immer schwarz und hat fast nie gelacht.“ Kriegswunden.

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Schräglage

Nach dem Tod des Vaters und der beiden Brüder wurde die Familie bis zum Kriegsende evakuiert. „Ich weiß noch, dass wir zuerst mit dem Rad nach Haltern gefahren sind. Ich saß bei einem meiner Brüder hinten auf dem Gepäckträger. Übernachtet haben wir bei Wesel in einem kleinen Ort namens Büren. Von dort ging es weiter nach Haltern. Von da sind wir dann mit einem Lastwagen nach Schwanenberg bei Magdeburg gefahren.“ Der Laster fuhr in Schräglage, „denn einer der vier Reifen war ein Fliegerreifen“.
Die Zeit in Schwanenberg war schwer für die Familie. „Es gab dort viele Gutshöfe und ich erinnere mich noch, dass meine Mutter mit mir zusammen zu einem Hof gegangen ist. Sie wollte um Eier bitten, aber die Leute haben uns die Tür vor der Nase zugeschlagen. Wenn ich heute daran denke, kommen mir die Tränen, obwohl ich wirklich kein weichlicher Typ bin“, sagt Dinnessen.  Noch heute kann er nichts wegwerfen – Lebensmittel schon gar nicht. Dass heute Menschen im Mittelmeer ertrinken müssen, kann Dinnessen nicht verstehen. „Menschen, die fliehen, weil irgendwo Krieg ist – denen muss man doch helfen.“

Mutter, Vater, Brüder

Im Grab auf dem Frasselter Friedhof, das Dinnessen seit Jahrzehnten pflegt, liegen die Mutter, der Vater und die beiden Brüder. Johannes Dinnessen war der Jüngste der Familie. „Alle meine Brüder sind mittlerweile verstorben, aber keiner von ihnen hat die 80 erreicht.“ Auf dem Grabstein steht: Familie Lambert Dinnessen. Auf einem Totenzettel aus dem Jahr 1945 sind unter den Opfern des 17. September Lambert und Gerhard Dinnissen (die Schreibweise wurde irgendwann aufgrund eines Übertragungsfehlers geändert) aufgeführt – unter anderen. Es finden sich auch Maria, Joseph und Christa Kraß. „Da ist eine ganze Familie gestorben – nur der Mann hat überlebt. Er war an der Front. ER kam zurück, und die Familie gab es nicht mehr“, sagt Dinnessen. (Siehe Pfarrchronik)
Vor Jahren hat er ein Dreierportrait des Vaters und der beiden Brüder Theodor und Gerhard anfertigen lassen. „Ich habe Passbilder der drei zu einem Fotografen gebracht. Der hat dann daraus das Foto zusammengestellt.“ Es hängt im Wohnzimmer. Ein bisschen wirkt es wie die Aufforderung zur Demut. Johannes Dinnessen ist zufrieden mit seinem Leben – einer, der in sich ruht. „Wir haben drei tolle Kinder“, sagt er, „es geht uns gut. Man muss dankbar sein.“

Foto: Rüdiger Dehnen

Aus der Pfarrchronik von Pfarrer Kück

17. September 1944. „Tage der Not, Angst und Sorge“, so hatte ich in den früheren Chronik die Aufzeichnungen vom Anfang September an in banger Ahnung über das drohende Unheil überschrieben. Dass es aber so furchtbar und so schnell hereinbrechen würde, hatte ich nicht gedacht. Es war ein Sonntag. Der Bischof hatte für diesen Tag einen Bet-Tag angeordnet. Da nachts vorher ein Einflug von Fliegern gewesen war, der über Mitternacht gedauert hatte, musste der Gottesdienst erst um 10 Uhr anfangen. Um den katholischen Westwallarbeitern Gelegenheit zum Gottesdienst zu geben, war der Bet-Tag für unsere Gemeinde für den Nachmittag mit Abendmesse geplant. Es sollte so weit nicht mehr kommen. Kaum war die heilige Messe beendet – es war gegen 10.45 Uhr und Alarm war noch nicht gegeben –, erschien plötzlich eine Reihe von Flugzeugen und schon fielen die ersten Bomben. Es waren Sprengbomben. Die Bevölkerung hatte kaum Zeit, Schutz zu suchen. Immer neue Reihe von Flugzeugen flogen heran und sandten Tod und Verderben über unseren Ort. Der Angriff galt, wie wir später feststellten, dem Reichswald und so fielen die Bomben über Oberfrasselt und Schrammstraße, besonder Grafwegen und richteten viele Brände und Zerstörung an, während Schottheide und der mittlere Teil von Frasselt verschont blieben. Freilich war auch ganz Frasselt von den Sprengteilen und Bomben übersäht.
Es waren furchtbare Momente, als immer wieder neue Verbände einflogen und das Donnern der herabfallenden Bomben das Brüllen der Propeller übertönte. Alles war draußen von dichten Sandwolken erfüllt. Da kam schon die Nachricht, dass Menschenverluste zu beklagen waren und mehrere verwundet darniederlägen.
[…] Überall sah man Brände, die durch den Bombenangriff entstanden waren. Am Rande der Schrammstraße lagen einige verwundete Männer, denen ich die heilige Ölung spendete. Dann erfuhr ich, dass am Rande des Waldes zwei verwundete Frauen liegen müssten und große Eile geboten wäre. Man lieh mir schnell ein Rad. Ich fuhr an den total zerstörten Zollbeamtenwohungen vorbei, wo die Ehefrau Kraß mit ihren beiden Kindern von Bomben tödlichen getroffen worden waren. Ich versuchte nun, zu dem Waldweg zu gelangen, was mir aber mit dem Rad nicht möglich war, da die Bäume über dem Weg lagen. Während ich das Rad an die Seite stellte, kamen neue Verbände mit neuen Bomben. Da traf ich die Tochter der einen der beiden gesuchten Frauen. Gemeinsam bahnten wir uns den Weg über die am Boden liegenden Bäume und Sandmauern hinweg und an Bombentrichtern vorbei, bis wir vom Wald aus das freie Feld überblicken konnten. Und da sahen wir die beiden Frauen liegen. […] Sie waren tot. Erschütternd war der Aufschrei der armen Tochter, die ihre liebe Mutter so wiederfinden musste. Auf dem Rückweg über das Feld zum Dorf hin, flogen neue Verbände ein, die glücklicherweise keine Bomben abwarfen, sonst wäre es um mich geschehen gewesen. In Oberfrasselt […] fand ich andere Verwundete, die aber glücklicherweise keinen lebensgefährlichen Schaden bekommen hatten und nach Kleve zum Krankenhaus gebracht werden konnten.
Inzwischen hielt die Unruhe in der Luft an. […] Wir meinten immer noch, dass der Angriff den Arbeitern im Wald gälte, bis wir um 14 Uhr nachmittags nach Wyler hin in der Luft hunderte von Fallschirmen sahen. Jetzt war uns klar: Die Front des Krieges näherte sich unserer Heimat und es stellte sich schon bald heraus, dass im Raume Nimwegen-Arnheim kanadische Fallschirmjäger und Lastensegler gelandet waren.
Schon am Nachmittag fanden Kämpfe in Grafwegen statt, ferner in Wyler, wo schon am Sonntag kanadische Truppen in das Dorf eingedrungen waren.
Nach einer verhältnismäßig ruhigen Nacht, die die meisten Bewohner aber in Kellern und Bunkern verbrachten, folgte ein Montag voller Unruhe und Schrecken. Es war ein schöner, sonniger Herbsttag. Den ganzen Tag flogen Jabos [Jagdbomber; Anm. d. Red.] im Tiefflug über die Dorfstraße hinweg und schossen mit ihren Bordwaffen in das Dorf hihein, so dass wir fast den ganzen Tag im Keller und in Bunkern verbrachten. Gegen Abend strömten die Soldaten, die am Sonntag und Montag eiligst zum Einsatz aufgestellt waren […] zurück und erklärten, dass am anderen Tag bestimmt die Amerikaner bestimmt in Frasselt einrücken würden. Wir stellten uns darauf ein und hielten am Bunker, in dem wir schliefen, die weiße Fahne bereit, aber es kam anders.

 

19. September: Ein unruhiger, aufregender Tag folgt, an dem wir erfuhren, dass schon gestern der „tapfere“ Nazibürgermeister geflohen sei, nachdem schon am Sonntag alle die Westwallaufsichtsführenden Parteibonzen, die von auswärts gekommen waren, geflohen waren und ihre Leute im Stich gelassen hatten. Diese selbst waren schon zu Fuß in ihre Heimat zurückgewandert. So waren wir in unserer Gemeinde wieder allein und begaben uns abends in unsere Keller und Bunker in der festen Überzeugung, dass der Krieg für un aus sei und am anderen Tag die Amerikaner bei uns sein würden. Aber es kam wieder anders: In der Nacht gegen zwei Uhr klopfte es an unseren Bunker und es erschien eine Frau, die uns sagte, höhere deutsche Offiziere sein ins Dorf gekommen und hätten ihr Erstaunen ausgedrückt, dass das Dorf noch nicht geräumt sei. Wir lägen schließlich mitten in der Kampfzone. In panischem Schrecken wollten fast alle das Dorf noch in der Nacht verlassen, was auch einige getan haben. Es gelang uns aber, die meisten Leute zu beruhigen und zum Hierbleiben zu veranlassen.

 

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