Sex & Drugs & Rock ‘n’ Roll: Reime auf das Leben

BEDBURG-HAU. Tagungen sind grammatikalisch betrachtet feminin. Am besten also nicht nach dem Alter fragen. Das tut Mann nicht. Es gibt Ausnahmen: Man(n) nennt sie Jubiläen. Ein ebensolches feiert in diesem Jahr eine Veranstaltung, deren Name wüster klingt, als die Veranstaltung ist: „Sex & Drugs & Rock ‚n‘ Roll“.

Gedealt wird schon
Natürlich ist das keine Fachtagung für Zuhälter und Dealer. Andererseits: Gedealt wird schon – mit Reimen auf das Leben, denn darum geht es in der Forensik auch: Sich einen Reim zu machen auf das, was war und das was sein soll.
„Als wir mit der Tagung angefangen haben, hatten wir rund 100 Teilnehmer. Heute sind es über 300“, freut sich Dr. Jack Kreutz. Er sagt auch, dass „seit damals“ die Forensik „explodiert“ sei. Gemeint ist keine mit Dynamit beschleunigte Zerstörung – gemeint sind die Ausmaße und (nicht zuletzt) Patientenzahlen.
Alljährlich dreht sich bei S & D & RR alles um ein spezielles Thema, zu dessen Erörterung und Vertiefung hochkarätige Referenten eingeladen werden. Außer Fachreferaten werden täglich auch Arbeitsgruppen angeboten und am vorletzten Abend wird zur Kongressfete eingeladen. „Das ging dann früher schon mal bis um fünf Uhr morgens“, sagt Jack Kreutz. Heute ist eher früher Schluss. (Ein Nebenprodukt der Alterung.)

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Feelings
Thema in diesem Jahr: „More than a feeling – Bindung, bindungslos, mehr als ein Gefühl?“ Fragezeichenthemen sind immer vielversprechend und bieten Aussicht auf Kontroverses. Fragezeichenthemen haben es schwer, in reiner Erkenntnisvermittlung stecken zu bleiben. Bindungen also: Wer bindet sich an wen und warum? Ist das Konzept der Bindung therapie- und analysetauglich? Ist Bindung eine Art „Wahlverwandtschaft“ oder lässt sie sich steuern und somit gezielt einsetzen?
Bindung hat viele Schattierungen: Es geht um „Traumatische Verstrickungen zwischen den Generationen und ihre Folge für die Nachkommen“, um die Frage „Ist die Forensik derzeit bindungsfähig?“ oder um „Bindungstheorie aus Sicht der transkulturellen Psychiatrie“. Letzteres ist in Zeiten verstärkter Migration von wachsender Bedeutung, denn Menschen – und also Therapeuten wie Patienten – sind „Kulturprodukte“, Organismen also, die nur vor einem entsprechenden Hintergrund zu erklären beziehungsweise zu entschlüsseln und verstehen sind.

Kulturelle Kontexte
Wenn es (natürlich nicht nur) in der Forensik um den Reim geht, den man sich auf das Leben macht, wird schnell deutlich, wie bedeutungsschwer Herkunften sind. Dr. Felicia Heidenreich-Dutray, eine der Referentinnen der Tagung: „Wir sind alle in bestimmten kulturellen Kontexten sozialisiert, die einen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie wir unsere Beziehungen und Bindungen leben und erleben.“
Prof. Dr. Ian Needham erörtert in seinem Vortrag mit provokanter Fragestellung, „inwiefern die derzeitige Forensik fähig ist, Bindungen einzugehen und wo Bindung potentiell möglich wäre.“ Ein weiteres Thema: Konstruktiver Kontakt mit destruktiven Menschen. Referent Andre Müller: „Bindungs- und Beziehungsstörungen werden im Kontakt sichtbar. Gerade in langzeitigen Unterbringungen kommen unsichere und labile Personen schnell an ihre Grenzen. Wir erleben aggressive, verbale oder körperliche Übergriffe, depressiven Rückzug, Konsumverhalten oder Verkumpelungen mit dem Personal, um den Alltag zu ertragen.“ Man liest und im Hinterstübchen des Denkapparates taucht die Frage auf: Muss man, um dergleichen zu erleben, in die Forensik? Eine andere Baustelle.

Alles Gute
Der Tagung mit dem „flotten“ Namen (sie gehört übrigens zu den größten forensischen Fachtagungen in Deutschland) wünscht man alles Gute und langen Fortbestand. Im kommenden Jahr – so viel steht fest – wird Jack Kreutz nicht mehr zuständig sein, denn Ende Februar 2020 ist für ihn Schluss. Fragt man Kreutz, der als Moderator bereits seinen Abgang in den Ruhestand angekündigt hat, nach der Zukunft der Tagung, sagt der naturmgemäß: „Natürlich wird es weiter gehen.“ Man wird sehen, wie genau das dann aussieht.

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