Tränen einer Königin

NÜTTERDEN. Nur damit das mal klar ist: Wer‘s ins Finale schafft, gehört doch schon zu den Siegern, oder? Andererseits: Man schielt doch immer nach dem Treppchen. Sechs Vorleser treten an, ein Publikum zu fesseln – und die Jury natürlich erst recht.
Alles beginnt mit Druck. Keine Angst: nix Schlimmes. Die Lehrerin drückt die Daumen. Das Publikum soll es, bitte, auch tun. Feste, ganz feste. Für alle Vorleser gleich. Am Ende: ein paar Tränen. Soraya ist traurig. Kein erster Platz. Irgendwo sitzt ein Schmerz, der sich hoffentlich legen wird. „Du hast toll gelesen“, sagt Jurorin Sigrun Hintzen. Stimmt. Soraya ist unter den besten Sechs von allen Schülern aus zwei dritten Klassen gelandet. Dahin musst du es erst mal geschafft haben. Aber wahr ist auch: Niemand tritt an, um am Ende nicht zu gewinnen. Alle sechs Vorlesekandidaten bekommen eine Urkunde. Alle sind Lesekönige. Demnächst vielleicht auch mal an die Königinnen denken. Zwei verschiedene Urkunden schaffen Geschlechtergerechtigkeit. „Eigentlich bist du ja eine Lesekönigin“, tröstet Sigrun Hintzen eine Königin.

Sie haben wieder mal toll gelesen in Nütterden. „Ihr habt alle sechs schon gewonnen. Wir als Jury bringen das nur noch mal in eine Reihenfolge“, erklärt Sigrun Hintzen. Trotzdem: Sorayas Tränen sind verständlich, aber: Wenn die Tränen getrocknet sind, bleibt die Urkunde. Soraya Stedronsky: Lesekönigin. Angetreten waren Ben, Soraya, Anouk, Katharina, Phil und Romy. Sie haben es der Jury richtig schwer gemacht. Am liebsten würde man ja lauter erste Plätze vergeben. Am Ende entscheiden Kleinigkeiten. Alle gehen in ihren Texten auf, gehen darin spazieren – stehen weit über den Buchstaben.
Gleich am Anfang – es ist Zeit für die Jurorenbeichte – ist man einmal kurz abgeschweift. In einem Text taucht das Wort „verstunken“ auf. Ich denke an Kino und Rinderbraten. Zwei Stunden ‚Green Book‘ und das Rind auf dem Herd hatte sich in Kohle verwandelt – dazu Nebelschwaden im ganzen Haus. Alles stinkt nach Qualm. Was Wörter auslösen können: verstunken … Genau so funktioniert Literatur – unabhängig von der Zielgruppe. Aus Texten werden Bilder. Kleiner Exkurs ins Kino: Auch Lesen kann Kino sein, wenn gute Vorleser am Werk sind. Die Lesekönige sind der Beweis.
Die schönsten Literaturverfilmungen sind immer noch die im eigenen Kopf. Was sagte Regisseur Peter Weir noch gleich? „Wenn du ein Buch verfilmst, musst du alle Wörter herausschütteln. Dann bleiben die Bilder übrig.“ So geht (Vor)Lesen.
Während des Vorlesens ertönt zweimal der Gong. Für die Vorleser der St. Georg Grundschule und ihr Publikum wird die Pause nach hinten verschoben. Anschließend geht es auf den Pausenhof.
Vorher natürlich: Posieren fürs Siegerbild. Bitte recht freundlich. Und dann das Plenum. „Alle in meine Richtung schauen, bitte.“ (Smile. Cheese.) Perfekte Stimmung. Super Leistungen. Ben hat das Rennen gemacht. Alle gönnen es ihm. Wörter kamen an – Bilder blieben zurück. Wie wohl die Oma aussieht, die das Internet kaputt gemacht hat? Oder der falsche Holmes? Die Vorleser waren Reiseführer. Ben, Soraya, Anouk, Katharina, Phil und Romy haben es toll gemacht. Man kann nur gratulieren. Und Sorayas Tränen soll Woody Allen kommentieren: Tragödie plus Zeit gleich Komödie. Wir sehen uns im nächsten Jahr. Andere Schüler – gleiche Begeisterung.

Die Finalisten in Nütterden und ihre Platzierungen (v.l.n.r.): Soraya Stedronsky (4.), Romy Leenders (4.), Katharina Booth (4.). Phil Craemer (3.), Anouk Verberkt (2.), Ben Spronk (1.).
Vorheriger ArtikelEmbricana: Ole Engfeld neuer kaufmännischer Leiter
Nächster ArtikelTeleprompter zum Mitnehmen