Der Preis der Freiheit

KLEVE. Was genau ist eigentlich Heimat? Nicht selten gilt: Je mehr einer davon hat, desto weniger denkt er darüber nach. Dinge werden unsichtbar, wenn sie selbstverständlich sind. Mit der Freiheit ist es ähnlich. Erst, wer sie verliert oder gar nicht hat, beginnt, über ihren Wert nachzudenken.

Manchmal muss, wer die Freiheit möchte, einen hohen Preis zahlen. Es ist nicht nur der Preis für einen Schlepper, der die Flucht ermöglicht. Manchmal wird der Gewinn der Freiheit mit dem Verlust der Heimat bezahlt. Abdul Wahab Shaaban lebt in Kleve – seit 2016. Seine Heimat war einst Ost-Ghuta in Syrien. Eine Heimat, in der einer, wenn er Wasser braucht, nicht einfach den Hahn aufdreht. Eine Heimat, in der einer, wenn er kochen will, erst Holz suchen muss. Eine Heimat, in der Shabaan drei Jahre die meiste Zeit keinen Strom hatte. Dergleichen wird hierzulande bei Erlebnis- oder Führungsseminaren angeboten. Aber das ist nur die eine Seite des Notstands. „Wenn Sie hier Ihre Regierung kritisieren möchten, können Sie das tun“, sagt Shaaban. In Syrien kann, wer etwas gegen des herrschende Regime sagt, im Gefängnis landen oder schlimmstenfalls spurlos verschwinden.

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Abdul Wahab Shabaan war 23, als er sein Land verließ – ohne eine Vorstellung von Zukunft. „Ich habe nicht darüber nachgedacht, was mich erwartet“, blickt er zurück. Sein Land hatte Shaaban bis dahin kaum je verlassen, eine andere Sprache als seine Muttersprache Arabisch nie gebraucht. Apropos Mutter: „Was muss passieren, dass eine Mutter ihrem Kind sagt ‚Verlass das Land und komm nicht zurück?“ Shabaans Eltern und seine drei Geschwister sind noch immer in Syrien – in Damaskus.

Einmal in der Woche haben sie Kontakt. Die Mutter riet dem Sohn zur Flucht. Der Sohn hatte Abitur und eine abgeschlossene Ausbildung zum Anästhesie-Assistent. Dann kam die Flucht. Würde er heute noch einmal fliehen? „Ich kann das nicht wirklich sagen. Was ich auf der Flucht erlebt habe, will kein Mensch auf der Welt zweimal erleben.“ Entwurzelung – der Preis der Freiheit. (Thaman alhuriya.) Ein Gedanke beherrschte den Kopf: Hauptsache weg. Schon bevor Shaaban seine Heimat verließ, hatte er seine Familie zweieinhalb Jahre nicht gesehen.

Ein konkretes Ziel hatte Shaaban nicht, als er sich im Winter des Jahres 2015 auf den Weg machte. Zwei Länder schwirrten durch die Gedanken: Schweden und Deutschland. („In Schweden wohnte ein Freund von mir.“ In Deutschland gab es Verwandte.)Den Merkel-Satz „Wir schaffen das“, von der Kanzlerin anlässlich einer Bundespressekonferenz am 31. August 2015 ausgesprochen, kannte er nicht, „aber wir wussten, dass die Grenzen offen waren“.

Shaaban reiste damals über Österreich nach Deutschland ein. „Das war irgendwo in Bayern, aber ich weiß nicht, wie der Ort hieß.“ Wenn auch Sprache Heimat ist, ging für Shaaban nun noch mehr Heimat verloren. Von Bayern aus kam er nach Düsseldorf – danach für einen Monat nach Wipperfürth. Längst war auch sein Asylverfahren eingeleitet, seine Fingerabdrücke waren genommen, sein körperlicher Zustand untersucht. Sprechen? Englisch zunächst. („Ich spreche nicht wirklich gut Englisch“, sagt Shaaban.) Im Januar 2016 kam er nach Kleve und schon am zweiten Tag erkundigte er sich nach Möglichkeiten, die Sprache zu lernen. („Schon in Wipperfürth habe ich Deutsch gelernt. Da kamen unter anderem Schüler zu uns und haben mit uns gearbeitet.“)

Aus seinem Wunsch, in seinem Beruf zu arbeiten, wurde erst einmal nichts. „Ich hätte praktisch von vorn beginnen müssen“, sagt er. 15 Monate Theorie und Praxis sind ein Hindernis, wenn einer erst mal die Sprache lernen und sich um sein Asylverfahren kümmern muss. Knapp ein Jahr nachdem Shaaban nach Deutschland kam, wurde er als Asylsuchender anerkannt. Längst waren aus den Sprachfetzen des Anfangs Zusammenhänge geworden. Wenn Shabaan heute zurückblickt, gibt es Namen, die er nennen möchte. Es sind die Namen von Menschen, die ihn unterstützt, ihn aufgenommen und ihm geholfen haben. Ulrich Degen, Hannelore Pallutz, Thomas Ruffmann, Johannes Konigorski, Ulrike Becker, Hans Hussmann.

Ab März 2017 arbeitete Shaaban in der Intensivpflege. Aus einem Praktikum wurde eine halbe Stelle. Im August 2018 begann er eine Lehre zum Elektriker. Seine Firma: Hussmann. Längst hat Shaaban ein neues Ziel: Er möchte sich irgendwann intensiv mit dem Thema erneuerbare Energien auseinandersetzen – studieren vielleicht. „Als ich noch in Syrien war, habe ich erlebt, wie Menschen versucht haben, selber Strom zu erzeugen.“ Ja – er kann sich vorstellen, irgendwann, wenn es in Syrien anders läuft, zurückzugehen und dort – im Auftrag einer deutschen Firma vielleicht – in Sachen erneuerbare Energien unterwegs zu sein.

Längst aber ist Deutschland auch ein Stück Heimat geworden. Die Famielien: Noch immer in Damaskus. „Damaskus heute – das bedeutet: Es ist ruhig, aber es ist nicht wirlich sicher.“ Viele Menschen leben von der Hand in den Mund.
In seiner Freizeit ist Shaaban, der mittlerweile auch einen deutschen Führerschein gemacht hat, gern mit dem Rad unterwegs. Kontakte hat er viele: Syrer – die meisten. („Es ist nicht einfach, Leute in meinem Alter kennenzulernen“, sagt er.) Sein Deutsch: fast lupenrein. („Das habe ich unter anderem Ulrich Degen zu verdanken.“) Irgendwann möchte Shaaban eine eigene Familie gründen. Das muss sich ergeben. Inshallah – so Allah es will.

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