35 Kilometer vom Tod entfernt

Eva Weyl berichtet im Lise-Meitner-Gymnasium über ihre Zeit im Durchgangslager Westerbork

GELDERN. Knapp 14 Jahre alt war die Jüdin Eva Weyl, als sie 1950 zu ihrem Großvater nach Freiburg in den Urlaub fuhr. Sie verliebte sich in Fritz, einen deutschen Jungen. Ihr Großvater verbot ihr daraufhin strikt den Kontakt: „Fritz‘ Vater war der größte Nazi in ganz Freiburg”, erklärte er. Die junge Eva erwiderte daraufhin ganz sachlich: „Und was kann Fritz dafür?”

Wenn die heute 83-Jährige Eva Weyl auf ihr Leben zurückblickt, ist für sie immer mehr die Erkenntnis allen Geschehens, dass man das Handeln von Menschen hinterfragen soll, wenn es gegen die eigenen Grundsätze geht: „Ihr dürft nicht einfach alles glauben, was euch erzählt wird, sondern müsst es hinterfragen”, ist die Message, die Weyl den Schülern des Lise-Meitner-Gymnasiums mit auf den Weg gibt. All zu oft musste die 1936 geborene Jüdin in ihrem Leben erfahren, dass Menschen ihr Handeln einzig mit der Begründung rechtfertigten, dass andere es so in Auftrag gegeben hätten.

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1942: Deportation nach Westerbork

Das Leid der Familie Weyl begann im Jahr 1934. Dort entschied sich Eva Weyls Vater, Kleve zu verlassen, da die Bedingungen für Juden in Deutschland immer schwieriger wurden: „Hitler hat das Leben für die Juden sehr schwer, beinahe unmöglich gemacht”, berichtet Weyl. Die Eheleute wanderten in die Niederlande aus, wo Weyl geboren wurde. Bis 1942 konnte die Familie noch „recht gelassen leben”, wie die Zeitzeugin sich erinnert. Dann wurde die Familie ins Durchgangslager Westerbork, 35 Kilometer von der deutschen Grenze entfernt, gebracht: „Damals war ich sechseinhalb Jahre und wusste nicht, was mit mir geschieht. Meine Eltern erzählten mir nur, dass wir umziehen mussten, aber das war ein arg komischer Umzug”, erinnert sich Weyl rückblickend.

Eva Weyl (rechts) berichtet Schülern von ihrer Vergangenheit. Anke Winter (sitzend, vorne) hört gespannt zu. NN-Foto: Dickel

Was Weyl in Westebork erlebt, hat nicht viel gemein mit den Berichten anderer Überlebenden aus Vernichtungslagern. Das Leben in Westerbork gestaltete sich für die Famile Weyl als ein ganz normales Dorfleben, in dem die Kinder zur Schule gingen, die Eltern arbeiteten und Kranke sogar in ein eigenes Krankenhaus gebracht wurden: „Genau das war das Perfide. Es war alles eine wahnsinnige Täuschung. Die Gerüchte, dass im Osten Juden ermordet wurden, konnten wir einfach nicht glauben. Warum sollte man hier Juden zur Genesung in Krankenhäuser bringen und dort umbringen? Das ging mir nicht ins Hirn rein.” Genau mit diesem Vertrauen der Juden spielte Lagerleiter und SS-Obersturmführer Albert Konrad Gemmeker. Er baute eine Welt auf, die so gar nichts gemein hatte mit der Welt, die die wöchentlich abtransportierten Juden in Auschwitz und Bergen-Belsen vorfanden. Letzten Endes waren es aber insgesamt 80.000 Juden, die von Westerbork jede Woche in die Vernichtungslager gebracht wurden. Gerade diese gespielt heile Welt ist es, die Weyl auch heute noch beschäftigt. Immer wieder wiederholt die 83-Jährige schockiert: „Es war einfach wie ein normales Dorf.”

„Warum sollten anderswo Juden ermordet werden, wenn sie bei uns ins Krankenhaus kamen? Das ging nicht in mein Hirn rein.”

Nur einer falschen Bombardierung durch die Alliierten hat Weyl ihr Leben zu verdanken: „Wir sollten eigentlich am nächsten Tag ebenfalls abtransportiert werden, als nachts auf den riesigen Schornstein, der sich im Dorf befand, geschossen wurde”, so die Erinnerungen der Amsterdamerin. Die Alliierten hatten Westerbork mit einer deutschen Stadt verwechselt und das Dorf deswegen bombardiert. Für Eva Weyl war das die Rettung: „Durch die Bombardierung war Vieles zerstört, auch die Gleise für die Züge und die Liste, auf der wir alle registriert waren, war verloren.” So überlebte Weyl und richtete sich Jahre später in der Schweiz ein eigenes Leben auf.

Gespräch mit der Nichte des Lagerleiters

Die Geschehnisse aus dieser Zeit lassen der 83-Jährigen aber keine Ruhe. Immer wieder geht sie in Schulen, berichtet von ihrem Glück, überlebt zu haben und ermahnt die Schüler, dass sie es niemals wieder soweit kommen lassen dürfen: „Ihr seid nicht verantwortlich für die Vergangenheit, aber für das, was ihr daraus macht.” Eine junge Frau, die sich dieser Verantwortung stellt ist Anke Winter. Die Geschichte von Anke Winter und Eva Weyl ist durch Winter‘s Großvater miteinander verwoben. Der Großvater war niemand Geringeres als Lagerleiter Albert Konrad Gemmeker. Für die Enkelin des SS-Obersturmführers ist dies kein schönes Gefühl: „Er war für den Tod von so vielen Menschen mitverantwortlich und hat deshalb vollkommen zurecht im Gefängnis gesessen.” Erfahren von den Taten ihres Opas hat die Neukirchen-Vluynerin erst spät: „Da meine Oma geschieden war, hatten wir kaum Kontakt zu ihm. Außerdem wurde das Thema meist ausgeklammert”, so Winter. In Erinnerung hat Winter ihn als sehr strengen und distanzierten Menschen. Zehn Jahre musste Gemmeker im Gefängnis sitzen, aufgrund guter Führung kam er nach sechs Jahren jedoch frei. Warum die Strafe so gering ausfiel? „Er hat behauptet, dass er nicht gewusst hat, dass die Leute in den Vernichtungslagern ermordet wurden”, so Weyl ernüchtert. Sowohl sie als auch Eva Winter sind sich sicher, dass das gelogen war. Eine Lüge, die ihn bis zu seinem Tod begleitet hat: „Er ist an einem Magentumor verstorben”, erklärt Winter. In den letzten Monaten wurde er begleitet von dem Arzt, der im Durchgangslager Westerbork als Chefarzt gearbeitet hatte. Einem Juden.

Ob Albert Konrad Gemmeker jemals etwas in seinem Leben bereut hat, lässt sich nicht mehr feststellen. Auch Winter weiß darüber nichts. Fest steht für Eva Weyl dafür etwas ganz anderes: „Die Tatsache, dass dieser Chefarzt, der Jahre im Durchgangslager zubringen und ebenfalls Angst um sein Leben haben musste, ihm in seinen letzten Lebensjahren beigestanden hat, zeigt, dass man verzeihen kann.”

Und das ist ein Anfang.

 

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