Die Flucht mit dem Ballon

Michael Bully Herbig verfilmte Ereignisse aus 1979 fürs Kino / Zeitzeuge Wetzel berichtet jetzt in Rees

NIEDERRHEIN. Der Feiertag 3. Oktober erinnert an die Deutsche Einheit, die am 9. November 1989 mit dem überraschenden Fall der Berliner Mauer ihren Anfang nahm. Zehn Jahre zuvor gelang den Familien Strelzyk und Wetzel aus dem thüringischen Pößneck mit einem selbstgebauten Heißluftballon die Flucht aus der DDR in den Westen. Hollywood verfilmte ihre unglaubliche Geschichte bereits in den frühen 80er Jahren. Im deutschen Thriller „Ballon“, der seit Donnerstag in den Kinos läuft, zeigt Erfolgsregisseur Michael Bully Herbig seine Neuinterpretation der Ereignisse.

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Michael Bully Herbig ließ für seinen Thriller den Heißluftballon der beiden Familien in Originalgröße nachbauen.
Foto: Studiocanal/Marco Nagel

Günter Wetzel, der vor 39 Jahren maßgeblich den Bau des Ballons verantwortete und 2017 als Berater die Dreharbeiten begleitete, kommt am Dienstag, 9. Oktober, an den Niederrhein. Auf Einladung des Geschichtsvereins RESSA referiert der 63-Jährige ab 19 Uhr im großen Saal des Reeser Bürgerhauses über die Vorbereitungen und Durchführung der Ballonflucht, aber auch über den schwierigen Neuanfang im Westen und die beiden Verfilmungen der Geschichte. Auf der Großleinwand zeigt Günter Wetzel Fotos, Filme und Skizzen. Der Eintritt kostet drei Euro.
„Als 1989 die Mauer fiel, haben wir keine Sekunde lang gedacht: Dann hätten wir diese zehn Jahre auch noch in der DDR bleiben können“, sagt Günter Wetzel im Interview mit den Niederrhein Nachrichten. „Wir hatten durch unsere Flucht im Jahr 1979 einen Vorsprung, durch den wir etwas aufbauen konnten. Nach der Wende haben die ,Ossis‘ gerade den grenznahen Raum überflutet, was der Westen nicht gerade positiv gesehen hat. Bei uns war das anders. Wir sind sehr positiv empfangen worden.“
Die Idee zur Ballonflucht kam Günter Wetzel, als seine Schwägerin aus dem Westen eine Zeitschrift mitbrachte, in der über das Ballonfahrertreffen in New Mexico berichtet wurde: „Ich dachte mir, es kann doch nicht so schwer sein, einen Ballon zu bauen, und erzählte meinem Kollegen Peter Strelzyk von dieser Idee.“ Beide Männer waren handwerklich talentiert und sahen in dem Ballon die lang gesuchte Möglichkeit, vergleichsweise sicher mit ihren Frauen und Kindern in den Westen fliehen zu können. „Viele DDR-Bürger wollten fliehen“, sagt Wetzel. „Man hat den Wunsch bloß immer wieder verworfen, weil man keine sichere Möglichkeit dazu sah. Wirtschaftlich ging es uns gar nicht schlecht. Der Auslöser für unsere Flucht war deshalb auch kein konkretes Ereignis, sondern eher die Summe vieler Ereignisse, gepaart mit der Idee, einen Ballon zu bauen und damit in die Freiheit zu fahren.“

Die Schauspieler David Kross und Alicia von Rittberg trafen bei der „Ballon“-Premiere in München auf die Vorbilder für ihre Kinorollen, Petra Wetzel und Günter Wetzel.
Foto: Studiocanal/Kurt Krieger

Der erste Ballon, den Günter Wetzel aus dem Futterstoff einer Lederwarenfabrik nähte, erwies sich als Fehlkonstruktion. Der zweite Ballon war besser, aber zu klein für vier Erwachsene und vier Kinder. Deshalb startete die Familie Strelzyk allein ins Abenteuer, stürzte aber kurz vor der Grenze ab. Der dritte Ballon, damals der größte in ganz Europa, entstand unter Zeitdruck, weil die Staatssicherheit den Familien auf der Spur war. Als die Wetzels und die Strelzyks am 16. September 1979 in einem Waldstück abhoben, war die Ballonhülle nur provisorisch fertiggestellt. „Der Segelflug-Wetterbericht vom Bayerischen Rundfunk sagte das perfekte Wetter voraus, und wir hatten keine Zeit mehr, den Ballon zu testen“, sagt Günter Wetzel, „aber mir war an diesem Tag klar, dass wir nie wiederkommen werden. Ich habe aus dem Fenster geschaut, die Nachbarschaft gesehen und innerlich Abschied genommen.“
Nach 28 Minuten und 18 Kilometern, bei einer maximalen Höhe von 2000 Metern, landete der Ballon gegen 3 Uhr morgens im bayerischen Grenzort Naila. Das Medienecho war gewaltig, der „Stern“ sicherte sich die Exklusivrechte an der Geschichte, der US-Konzern Disney verfilmte die Ereignisse unter dem Titel „Mit dem Wind nach Westen“. Doch die Familien machten auch negative Erfahrungen mit der Boulevardpresse. „Wir haben uns ab 1980 aus der Öffentlichkeit rausgehalten und ein neues Leben aufgebaut“, sagt Günter Wetzel. „Erst seit meinem Vorruhestand vor drei Jahren bin ich wieder aktiv im Thema drin. Ich gehe als Zeitzeuge in Schulen und zu Vereinen, um unsere Geschichte und von der DDR zu erzählen.“ In dieser Woche war Wetzel zu Gast in der Talkshow „Markus Lanz“, am Dienstag, 9. Oktober, kommt er nach Rees. Für den neuen Film „Ballon“ rührt der Zeitzeuge besonders gern die Werbetrommel: „Mich hat der Film von Anfang bis Ende gepackt. Ich muss zugeben, dass ich im Vorfeld ein wenig skeptisch war, weil mich der Disney-Film in den 80er Jahren sehr enttäuscht hat. Natürlich gibt es auch beim ,Ballon‘ leichte Abweichungen, die der Dramaturgie geschuldet sind, aber alles in allem ist der Film wirklich klasse gemacht.“

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