Planet der Leiden

Man kann die Augen schließen – die Ohren nicht. (Man könnte Stopfen nehmen, aber man hat keine dabei.) Und schließlich ist man zum Berichten da und nicht zum Weghören. 22 Mal wird beschrieben, was ein Vater seiner Tochter antun kann. Man kämpft mit den Tränen. Die Kehle trocknet aus. Man sucht sich einen Punkt im Saal – einen, den man fixieren kann; einen, der Rettung verspricht, aber es gibt keine Rettung. Schon das Hinhören allein macht zum Opfer. Wenn man sich vorstellt, dass alle Worte vorher Taten waren, betritt man einen Planet der Leiden.

Es spielt keine Rolle, was wo passiert ist. Es kanndarf keine Spuren geben in diese Tragödie. 18 Minuten dauert es, die Anklage zu verlesen. Was da erzählt wird, ist wirklich passiert, denkt man. Natürlich ist noch nichts bewiesen, denkt man auch. Aber es wurde auch nicht geleugnet. Auf der Anklagebank einer, der als freier Mann den Saal betreten hat. Man sucht nach etwas, um das innere Fallbeil aufzuhalten. Nichts lässt sich finden.
Der Vorsitzende schafft es, Contenance zu bewahren. Er möchte wissen, ob der Mann auf der Anklagebank sich äußern möchte – zur Person, zur Tat …
Der Verteidiger greift ein. Ja, sein Mandant wird sich äußern: Zur Person. Zu den Vorwürfen. Aber … Es wird um Dinge gehen, die erfordern, die Öffentlichkeit auszuschließen. Das Wort ‚Schutzwürdigkeit‘ wird ausgesprochen. Ja – auch ein Angeklagter hat Anspruch auf Schutz. Das Verhandeln darüber, ob die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden soll, muss, so der Verteidiger, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden.
Wenn – später am Tag – die Tochter aussagt, wäre man wahrscheinlich freiwillig gegangen. Was einen vermeintlichen Täter in Taten wie diese treibt, hätte man allerdings erfahren wollen. Man möchte wissen, wie ein Vater alle Bremsen lösen kann. Immerhin: Es wird ein Gutachten geben. Spätestens dann quält man sich zurück in den längst kontaminierten Saal. Zwischendurch die Seele reinigen. Wegdenken vom Gehörten. Kaffee in der Kantine.
Es fällt schwer, die Wut im Bauch zu zähmen. Gut, dass es ein System gibt, dass der Wut keinen Platz lässt. Das System heißt Justiz. Es hat den Pranger ersetzt und stellt das Denken vor die Rache. Das zumindest ist der Idealfall. Ein Vater, der seine Tochter sexuell missbraucht hat – 22 Fälle stehen zu Buche – kann doch nicht bei Trost sein, denkt man. Natürlich ist Trost das falsche Wort. Menschen, die das mit anderen tun, was dieser Angeklagte mit seiner Tochter getan hat, nehmen den Opfern das Leben. Zurück bleibt ein Kokon. Die Opfer: Regungslos eingesponnen – ihre Seelen sind zu Gegenständen geworden. Nein, nicht geworden – gemacht worden.
Einmal am ersten Tag wird der Vorsitzende deutlich. Der Angeklagte äußert, vielleicht sollte das geplante Gutachten besser verschoben werden. Richter: „Heute Vormittag haben Sie gesagt, es geht ihnen gut. Herr Dr. K. [der Gutachter Anm. d. Red.] kann Sie untersuchen.“ „Nein. Ich fühle mich zu mitgenommen und gestresst.“ Richter (in sehr scharfem Ton): „Was glauben Sie eigentlich, wie Ihre Tochter sich fühlt?!!“ Also: Das Gutachten.

-Anzeige-

Außerhalb der Reichweite
Da sitzt, so beschreibt es der Gutachter, ein Mann, dessen Steuerungsfähigkeit nie eingeschränkt war. Keine Psychose. Keine Nähe zur Psychose. Da sitzt einer, der Schuld externalisiert. Vielleicht erklärt man‘s rasch: Da verlegt einer die Schuld an einen Ort außerhalb der eigenen Reichweite. „Ich suche nicht nach Rechtfertigung. Ich suche nach Gründen“, sagt der Mann auf der Anklagebank nach dem Gutachten. Nein – er leugnet nicht, was ihm vorgeworfen wird. Aber …
Die Prognose sei gar nicht so ungünstig, sagt der Gutachter und zieht – fast klingt es mutmachend – das ‚o‘ des Wortes ‚so‘ ein bisschen in die Länge. „Eine Behandlung ist denkbar.“ Aber gehört nicht zur Behandlung auch die Einsicht? Im Gutachten wurden Begriffe genannt, die man nicht kannte. Von Koprophilie und Koprophagie war die Rede. Man will‘s nicht erklären. Wer es wissen will, schlägt nach …
Natürlich: Es gibt viele Details. Aber … Im Gutachten wird unter anderem erzählt, der Angeklagte habe keine Kinder gewollt. Aber die Frau wollte welche. Drei sind es geworden. Irgendwann: Die Entfremdung. Er habe, sagt der Angeklagte, nachdem er seinen letzten Job verloren habe, keinen Fuß mehr unter den Boden bekommen. Er und seine Frau: Auseinandergelebte. [„Ich suche nicht nach Rechtfertigung – ich suche nach Gründen.“] Die Frau, sagt der Angeklagte, berichtet der Gutachter, habe ihren Mann in den Puff geschickt.
Ist der Angeklagte eine Pädophiler? „Nein“, heißt es im Gutachten. Pädophile suchen nur Kontakt zu Kindern, die noch vor der Pubertät stehen. Zwar hat der Angeklagte seine Tochter erstmals missbraucht, als sie noch keine fünf Jahre alt war, aber die angeklagten Taten haben sich bis zum Jahr 2011 hingezogen. Dar war die Tochter 13.

Plädoyers und Urteil
Haben Teile der Hauptverhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattgefunden, ist nach der zwingenden Vorschrift § 171 b Absatz 3 Satz, 2 GVG [Gerichtsverfassungsgesetz] ohne entsprechenden Antrag die Öffentlichkeit während der Schlussvorträge auszuschließen. (Man kann das auch komplizierter ausdrücken und gleich den ganzen Paragraph 171 b zitieren, aber letztlich geht es um das Resultat.) Die Sache hat ihre eigene Logik: Wenn die Öffentlichkeit bei der Aussage von Vater und Tochter (Täter und Opfer also) ausgeschlossen war, dann ist sie es auch bei den Schlussplädoyers. Dort werden schließlich Dinge zur Sprache kommen, die vorher ausgesagt wurden. Das macht Sinn. Am zweiten Tag der Verhandlung verkündet der Vorsitzende eben dies. Es ist 9.07 Uhr. Wird man wenigstens erfahren, welche Anträge gestellt wurden? Die Staatsanwältin verneint. „Wird es noch heute ein Urteil geben?“, fragt man den Vorsitzenden. „Davon gehe ich aus“, sagt er, weiß aber nicht, wann das sein wird. An der Tür zum Verhandlungssaal das Schild: Nicht öffentliche Sitzung. Es hängt schräg wie fast alles in diesem Prozess.

Man sitzt auf dem Gang, während drinnen die Schlussvorträge gehalten werden. Man denkt an das zerstörte Urvertrauen eines Kindes und stellt sich eine Hölle vor, die auch nach dem Ende des Prozesses andauern wird.

Um kurz nach zehn sind die Plädoyers beendet. Das Urteil um 13 Uhr. Was werden sie vorgetragen haben? Strafschärfend? Strafmildernd? Der Angeklagte hat nichts abgestritten. Immerhin das muss auf der Plus-Seite vermerkt werden. Er hat – das erfuhr man im öffentlichen Abschnitt dieses Tages – 10.000 Euro Schmerzensgeld überwiesen. Was kostet eine zerstörte Seele? Strafschärfend: Da zerstört einer das Urvertrauen eines Kindes. Wir werden ausgeliefert mit diesem Urvertrauen, denkt man – wir bringen es mit auf die Welt, aber: Wir sind auch Ausgelieferte. Wie also bestraft man einen, der ein Leben nachhaltig zerstört? Man mag nicht glauben, dass im Leben eines Kindes, dem solches widerfahren ist, noch ein Stein auf dem anderen ruht.
Neun Jahre, sagt der Pressesprecher, hat die Anklage gefordert, höchstens sechseinhalb die Verteidigung. „In Amerika würde ein Leben nicht ausreichen für die Strafe“, sagt eine Dame auf dem Gang, aber: Urteile werden nicht auf dem Gang gemacht.

13.15 Uhr. Die Kammer verhängt eine Strafe von sieben Jahren und sechs Monaten. 22 Fälle von Misshandlung. Besitz kinderpornografischer Schriften. Der Angeklagte hat Vieles in Bildern festgehalten, die – immerhin – nicht an die Öffentlichkeit gelangt zu sein scheinen. (Man erinnert sich. Anfangs hat der Angeklagte gesagt, er sei ein leidenschaftlicher Fotograf und Filmer.) Der Vorsitzende spricht von Besonderheiten. Er meint die Massivität der Taten. Er spricht von gravierenden Missbrauchshandlungen. „Es war nicht leicht für die Kammer, sich mit diesem Fall zu befassen“, sagt der Vorsitzende. Er sagt auch, dass beim Opfer von gravierenden Folgen auszugehen ist. Es gibt Faktoren zugunsten des Angeklagten: „Das ist unter anderem Ihr Geständnis“, sagt der Vorsitzende. „Sie haben nichts abgestritten. Das ist gerade in Verfahren wie diesen anzuerkennen.“ Von 2003 bis 2011 hat die Serie gedauert. Dann endete sie. Nie wurde darüber gesprochen. Jahrelang nicht – erst nach einem Familienstreit 2016 wurde der Missbrauch zum Thema. „Man steht sprachlos vor den Erklärungen, die Sie hier abgegeben haben“, sagt der Vorsitzende etwas später. „Was Sie uns als Erklärung angeboten haben, ist keine Erklärung.“

Dann geht es auch um Geld. Man könne eigentlich, was verhandelt worden ist, nicht in eine Summe fassen, sagt der Vorsitzende. Trotzdem wird ein Schmerzensgeld verhängt. 50.000 Euro. Immer wieder spricht der Vorsitzende von der Massivität des Geschehenen. Sieben Jahre und sechs Monate, sagt er, seien eine hohe Strafe. Angesichts der Höhe der Strafe bestehe Fluchtgefahr, sagt er. „Deshalb hat die Kammer einen Haftbefehl erlassen.“ Und während man schon den Kram zusammenpackt, hört man den Nachsatz. „Der Haftbefehl ist gegen strenge Auflagen außer Vollzug gesetzt.“ [????] Irgendwie denkt man: Das kann doch nicht sein. Man hat erlebt, dass sie „kleine Lichter“ quasi während der Urteilsverkündung „hopp genommen haben“. Herr Z. wird nachhause gehen. Wie will man das erklären? Am besten, man versucht es gar nicht erst. Sprachlos verlässt man den Planet der Leiden.

P.S. Eine Erklärung für das Aussetzen des Haftbefehls hat die Kammer nicht gegeben. Der Angeklagte wird seine Strafe antreten müssen, sobald das Urteil rechtskräftig ist. Das kann – für den Fall, dass eine Revision beantragt wird – Monate dauern.
Heiner Frost

Vorheriger ArtikelMehr Flexibilisierung von Arbeitszeiten
Nächster Artikel„Wer kommt, der kommt“:
Neues vom Kabarett