Schöne Nacht krönt den Tag – Romeo und Julia in der Klever Stadthalle

BOCHUM/KLEVE. Sonntag. 18. März, 13 Uhr: Noch vier Tage bis zur Premiere. Die Aufgabe ist gewaltig: Romeo und Julia – drei Worte, ein Megaklassiker. Die Jugendlichen von TheaterTotal haben sich auf den Weg gemacht – vor Wochen schon.
Wer hier mitarbeitet, muss leidensfähig sein. Acht-Stunden-Tage? Fehlanzeige. Andererseits: Die wenigsten werden das, was hier passiert, als Kreuzweg empfinden. Sie gehen einen notwendigen Weg.
Theater gibt es dies- und jenseits des Vorhangs, und während die Zuschauer Empfänger theatraler Ergebnisse sind, machen sich die anderen auf den Weg zu einem Gesamtkunstwerk. Probenarbeit ist nichts für ein Publikum, obwohl man hier etwas über das Theater lernen kann, über die Besessenheit, die Rastlosigkeit, die andauernde Suche nach der perfekten Form.
Tausende von Kleinigkeiten werden am Schluss zu einer Vorstellung, die wie aus einem Guss scheint und nichts von den Mühen im Vorfeld erzählt. Alles ist wichtig: Wie du dastehst, wenn du nichts sagst; wie du dich bewegst – auch am Rand der Sichtbarkeit; wie du sprichst und wie du schweigst; wie du leidest und dich freust; wie du tanzt; wie du verletzt bist.

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Proben heißt Vergößern

Beim Proben werden Handlungsstaubkörner zu Monumentalplastiken. Stimmt das Licht? Stimmt das Timing? Wie ist es mit dem Übergang von der einen Szene zur nächsten? Wer legt wo welches Requisiten ab und wer räumt sie später weg?
TheaterTotal heißt: Alle kümmern sich um alles. Alle machen alles. Alles muss ineinandergreifen. Am Ende wird ein Stück zum großen Tattoo. Es ist wie beim Musizieren: Du musst an jeder x-beliebigen Stelle ins Stück einsteigen können. Alles andere ist Zeitverschwendung.
Gerade proben sie auf der Bühne das Ende der dritten Szene des ersten Akts. Nichts Wildes eigentlich. Julia und ihre Amme. Die Amme sagt einen Satz: „Eine schöne Nacht krönt den Tag.“ Licht aus, Musik ab. Julia und die Amme verlassen das Sichtfeld.
Das klingt so simpel. Aber Technik und Mensch müssen sich synchronisieren. Wie lang so die Lichtblende dauern? Soll sie nach dem letzten Wort oder mit ihm beginnen? „Wir machen‘s noch mal:“ “Eine schöne Nacht krönt den Tag.“ Wie verhält sich das abblendende Licht zum Musikeinsatz? Wann bewegen sich die beiden Schauspielerinnen aus der Szene? Bewegen sie sich, wenn es dunkel ist? Bewegen sie sich ins Abblenden hinein? „Wir machen‘s noch mal:“ „Eine schöne Nacht krönt den Tag.“ Immer wieder müssen die Zeit für die Blenden neu programmiert werden. Immer wieder sagt die Amme ihren Satz. Immer wieder wird das Licht abgeblendet, die Musik eingeblendet. „Bleibt stehen, bis es dunkel ist“, hört man aus der Regie. „Aber wenn ihr länger stehen bleibt, müsst ihr schneller abgehen.“ „Wir machen‘s …“ „Eine schöne Nacht …“ Im Stück wird dieses Ende der dritten Szene im ersten Akt nur wenige Sekunden dauern, aber: Was bedeutet das, wenn es um die Inszenierung eines perfekten Augenblicks geht? Am Ende ist die Summe der perfekten Augenblicke, die das Publikum mitnehmen wird.

Gesamtkunstwerk

Nichts hier – das wird schnell klar – ist ein Werk des Zufalls. Und noch eines wird klar: Was ist schon Text allein, wenn sich niemand Gedanken macht um das Bühnenbild, die Inszenierung, das Gesamtkunstwerk? Ein Theaterstück ist wie eine Partitur, die ihre Erfüllung erst in der Interpretation findet. Es braucht die Musiker, das Ensemble … das Orchester. Man denkt zu wenig nach über diese Dinge. Andererseits: Solange es solch fantastische Aufführungen gibt … Auf der Bühne findet der Umbau statt: „Team eins!“, ruft jemand und eine handvoll Schauspieler lässt die treppenartige Kulisse über die Bühne gleiten als wär‘s eine Art Feder. „Team zwei!“ Die beiden riesigen Stufen-Elemente werden lautlos ineinandergesteckt. Später geht es darum, dass ein Tisch umgeworfen wird. Der Tisch: Ein Fuß, eine Platte. Alles muss am Ende so da liegen, dass der Weg für den nächsten Schauspieler nicht versperrt wird. Alles hier muss ineinander greifen. Alles hier funktioniert wie ein Uhrwerk. Auf dem Boden: Markierungen, die nur die Mitspielenden entschlüsseln können. In jeder Szene müssen später alle Dinge zentimetergenau an ihrem Platz stehen.
Jetzt und hier auf der „Heimatbühne“ an der Königsallee (es ist ein ehemaliger Kircheninnenraum) kennen alle jeden Quadratzentimeter. Aber auf der Tour muss auch alles funktionieren. Keine Zeit für Experimente. Ohne Präzision bliebe vieles dem Zufall überlassen. Präzision bedeutet Disziplin. Ohne Tournee könnte die Bühne anders aussehen. Oppulenter vielleicht – eine Art Maßanzug. Tournee bedeutet: Beweglichkeit. Beweglichkeit bedeutet: Reduktion. Du darfst Reduktion nicht als Einschränkung begreifen sondern musst sie als Aufforderung zum Wesentlichen erfahren. Theater lebt – bei alle Präzision – viel mehr als der Film vom mündigen Zuschauer und von der Verlängerung der Handlung ins eigene (Er)Leben. Ein Film ist irgendwann abgeschlossen – Theater bleibt, und das ist kein Widerspruch zu bereits Gesagtem – bis zur letzten Sekunde ein Experiment … eine Interaktion. Den Raum für die Freiheit allerdings – auch das ist kein Widerspruch – können nur perfekte Vorbereitung, absolute Hingabe und totale Disziplin liefern.
Fünf Aufführungen spielt das Ensemble in Bochum – dann beginnt die Tournee. Neue Räumlichkeiten – manchmal in Zweitagesintervallen. Nach Bochum kommt Warendorf und nach Warendorf … früh auf der Tour: Die Stadthalle in Kleve. Theater Total war 2015 schon hier. Damals stand eine Bearbeitung von Dostojewskis „Böse Geister“ auf dem Programm. 2017: Ein Gastspiel mit Shakespeares „Perikles – König von Tyrus“. Beide Gastspiele: Ein Erfolg. Warum also nicht mit Romeo und Julia wiederkommen?
Wer Lust auf den Klassiker in einer besonderen Inszenierung hat, sollte sich um Karten kümmern. Vorstellung am Freitag, 13. April, um 19 Uhr in der Klever Stadthalle. (Ein schöner Abend krönt den Tag.) Danach folgen bis zur Finissage 30 weitere Vorstellungen in ganz Deutschland. Es geht von Berlin bis zum Bodensee. Theater Total in Kleve: Freitag, 13. April, 19 Uhr, Stadthalle: Romeo und Julia. Heiner Frost

TheaterTotal
TheaterTotal ist ein Ort, an dem junge Menschen und erfahrene Künstler sich begegnen. Unter der künstlerischen Leitung von Barbara Wollrath-Kramer gibt TheaterTotal jährlich 30 jungen und interessierten Erwachsenen die Möglichkeit, sich auf einer ganzen Bandbreite kreativer Berufe auszuprobieren und Erfahrungen zu sammeln. Bei der Zusammenarbeit mit international bekannten, professionellen Künstlern werden die Teilnehmer in Schauspiel, Tanz, Gesang, Kostümschneiderei, Bühnenbild, Ton und Technik, Regieassistenz, Management, Fundraising, Grafik, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit ausgebildet. Und nicht nur das: Sie planen, kochen, waschen, putzen, machen grundsätzlich alles selber, oder lernen, es zu tun.
All ihre Kraft und Zeit widmen sie dem einen gemeinsamen Ziel – mit Theater total zu begeistern. Der Name ist Programm, denn das Theater wird total, in all seinen Facetten hautnah erfahren. Aus gemeinsamem Engagement entsteht ein selbst erarbeitetes Theaterstück, das mit einer selbstorganisierten Tournee in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz aufgeführt wird. TheaterTotal möchte jungen Menschen Orientierung geben und damit Perspektiven schaffen für Leben und Beruf. TheaterTotal heißt: Lernen durch Erfahrung. TheaterTotal ist Träger des Robert-Jungk-Preises und wurde durch mehrmalige Einladungen zu den Jugendtheatertreffen der Berliner Festspiele ausgezeichnet. TheaterTotal widmet sich im 22. Jahrgang des Projektes mit Romeo und Julia im dritten Jahr in Folge und zum sechsten Mal insgesamt (u.a. Viel Lärm um nichts, Ein Wintermärchen, Perikles – König von Tyrus) einem Shakespeare-Klassiker.

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