Ein kleines Stück Geschichte,

aber ein großes Stück Emotion

„Weltreise durch Wohnzimmer“ macht Halt bei einer Niederländerin in Geldern

GELDERLAND. Frikandeln, Holzschuhe, Käse und Tulpen. Das sind nur einige der Stereotypen, die den meisten Menschen wohl einfallen, wenn sie das Wort „Holland” hören. Dass die Niederlande, wie die korrekte Bezeichnung unseres Nachbarlandes ist, aber wesentlich mehr zu bieten haben, konnten die Teilnehmer der Veranstaltungsreihe „Weltreise durch Wohnzimmer” der Volkshochschule Gelderland am vergangenen Wochenende entdecken.

Frederika Dechange öffnet mit einem Lächeln die Tür ihrer Altbauwohnung. Die 76-jährige Niederländerin bittet ins Wohnzimmer und bietet den Teilnehmern der „Weltreise durch Wohnzimmer” direkt einen Kaffee an. Um 19 Uhr abends. Die Erklärung folgt gleich darauf: „In den Niederlanden gibt es morgens und nachmittags nur Tee. Erst abends nach dem Abendessen gibt es den ersten Kaffee”, so die sympathische Geldernerin. Passend zum Kaffee gibt es auch „een kokje”, wobei es nicht unbedingt bei dem einen Keks bleibt, denn Dechange muntert immer wieder auf, erneut zuzugreifen. Bevor die gebürtige Niederländerin beginnt, ihrer Geschichte zu erzählen, erklärt Karl-Heinz Pasing, Fachbereichsleiter der Volkshochschule Gelderland, die Intention hinter der Veranstaltungsreihe: „In unserem Kreis leben über 150 verschiedene Nationen und wir möchten mit dieser Veranstaltung einen Beitrag zur Völkerverständigung leisten.” Schmunzelnd fügt Pasing abschließend noch an, dass es immer besser sei, mit als über die Nachbarn zu reden. Eine Aussage, die Dechange gleich zum Anlass nimmt, ihre Geschichte zu erzählen. Die 76-Jährige ist in den Haag geboren und aufgewachsen und mit 20 Jahren nach Deutschland gekommen. Eigentlich wollte sie als Au-pair nach Paris, aber schließlich war ihrer Mutter Deutschland doch lieber, „das ist nicht so verwegen”, erinnert sich Dechange an die Worte ihrer Mutter. Hier in Deutschland hat Dechange dann ihren Mann kennengelernt und geheiratet.

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Das Zuckerdöschen steht nicht nur für ein Stück Geschichte, sondern auch für viele Emotionen. NN-Fotos: Sarah Dickel

Direkt zu Beginn klärt die Geldernerin aber ein Missverständnis auf: „Wer von euch war denn schon mal in Holland?”, fragt sie und merkt direkt an, „Venlo ist aber nicht Holland.” Denn, so erklärt sie, Holland sei lediglich der Name der zwei Provinzen Nord- und Südholland und Venlo zum Beispiel liege in Limburg. Ein Fehler, der immer wieder gerne gemacht werde. Wenn die 76-Jährige über ihr Heimatland spricht, gibt es viel, was sie erzählen kann. Sie kennt sich sehr gut mit der niederländischen Geschichte aus: spricht über die ersten Inquisitionen, das „gouden eeuw” (Goldene Zeitalter) und über das Verhältnis zum Wasser. Letzteres sei ein Thema, das die Niederlande sehr präge: „Westlich von Utrecht ist fast alles auf Pfählen gebaut. Früher gab es in den Niederlanden mehr Wasser als Land.” Einen Reisetipp hat Dechange auch gleich bereit: „Ab Gouda einfach mal ins Land reinfahren, dort sind die Kanäle alle höher als die Straßen und überall findet man Deiche.” Im Kopf bei den meisten Niederländern sei vor allem noch die Flutkatastrophe 1953, bei der allein in den Niederlanden über 1.800 Menschen starben.

Nachdenklich wird die 76-Jährige, als sie über die niederländische Seefahrt und die damit einhergehende Entdeckung neuer Landstriche berichtet: „Wir als Niederländer sind schuld, dass die Menschen in Surinam als Sklaven gehalten wurden”, erklärt Dechange und kommt gleich darauf auf ein weiteres trauriges Thema zu sprechen: den Zweiten Weltkrieg. „Wir hatten eine befreundete jüdische Familie, die auf der anderen Straßenseite wohnte”, erzählt Dechange, wendet sich ihrer Vitrine zu und holt eine kleine Zuckerdose hervor. „Sie wollten damals fliehen und konnte ja nur einen Koffer mitnehmen, deswegen haben sie uns so viele wichtige Stücke wie möglich mitgegeben.” Eines dieser Stücke ist das kleine Zuckerdöschen, das Dechange fest in ihren Händen hält. „Das Stück hier hat sie geliebt, das war ihres”, erzählt Dechange mit bebender Stimme. Ihren Kindern hat die Geldernerin schon heute eingeschärft: „Das Döschen, das dürft ihr niemals entsorgen.” Still ist es auf einmal in dem gemütlichen Wohnzimmer. Behutsam gibt Dechange das Zuckerdöschen herum und alle schauen es sich an. Es scheint, als sei die Geschichte auf einmal zum Anfassen nah, aber es ist nicht nur die Geschichte, es sind die Emotionen, die alle Teilnehmer der Veranstaltung zu tiefst bewegen.

Nach dieser bewegenden Erzählung gibt es aber erst mal „een lekker wijntje” (einen leckeren Wein) für alle. Passend dazu reicht Dechange Salzgebäck, Käse und Fisch. Alles typische niederländische Snacks, die für die gebürtige Niederländerin auch eine große Bedeutung haben: „Meine Großeltern haben alle mit Wasser zu tun gehabt, väterlicherseits sind alle in Scheveningen geboren und mein Opa war als kleiner Junge schon mit auf der Nordsee.” Gerade mal zehn Jahre alt sei er gewesen, da sei er schon mit rausgefahren: „Wenn es zu schweren Stürmen kam, wurde der Junge am Mast festgebunden und bekam einen in Genever eingetauchten Wattebausch in den Mund”, berichtet Dechange lachend. Dass es des Öfteren alles andere als lustig war, weiß die 76-Jährige genau: „Die Nordsee ist ein gefährliches Gewässer.” Viel hatten ihre Großeltern nicht und doch haben sie aus dem bisschen etwas gemacht: „Damals war man noch füreinander da”, findet Dechange. Überhaupt nimmt die Geldernerin kein Blatt vor dem Mund. Auch so eine typisch niederländische Charakter- eigenschaft, wie sie gesteht: „Wir sagen einfach alles geradeheraus.” Aber, da ist sich Dechange sicher, solche Menschen benötige es heute mehr, denn je: „Kein Mensch traut sich mehr etwas zu sagen und dafür einzustehen, dabei bräuchten wir genau solche Menschen.” Denn eigentlich sei nur eine Sache wirklich wichtig: Frieden.

 

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