70 Prozent der Kinderärzte
weisen neuen Patienten ab

Umfrage der Elterninitiative gegen den Ärztemangel im Kreis Kleve mit katastrophalen Ergebnissen

KLEVE. Die „Elterninitiative Kleve – Mehr Kinderärzte für den Kreis“ macht seit März 2015 mobil gegen den Ärztemangel auf dem Land. Jetzt sind die Mütter mit brisantem Zahlenmaterial an die Öffentlichkeit gegangen. In einer Pressekonferenz legten sie Tabellen der KV vor, aus denen hervorgeht, dass die Kinderärzte auf dem Land für viel mehr Einwohner zuständig sind als in der Stadt. De facto heißt das, so die Elterninitiative: Die Versicherten bekommen bei gleichem Beitrag weniger Versorgung, denn wer mehr Patienten hat, hat auch weniger Zeit.

Die Elterninitiative aus Kleve kämpft gegen den Ärztemangel auf dem Land. NN-Foto: Michael May
Die Elterninitiative aus Kleve kämpft gegen den Ärztemangel auf dem Land. NN-Foto: Michael May

Bei ihren Recherchen waren die Eltern auf eine Tabelle der KV gestoßen, aus der hervorgeht, dass im November 2013 auf einen Kinderarzt in Düsseldorf 2.405 Einwohner kamen, in Kleve aber 3.859. Das sind 60 Prozent mehr. Der Computerausdruck der Tabelle liegt den Niederrhein Nachrichten vor. Nach einem Gespräch der Elterninitiative mit dem Landesvorstand der KV in Düsseldorf 2015 ist diese Tabelle aus dem Internet verschwunden, so die Elterninitiative. Stattdessen ist jetzt eine Tabelle zur sogenannten Bedarfsplanung der Kinderärzte aufgetaucht, in dem die KV den Versorgungsgrad mit Kinderärzten angibt: Der liegt laut neuester Internet-Tabelle Stand 4/2015 bei 123,3 Prozent in Düsseldorf und 126,1 Prozent in Kleve. Düsseldorf und der Kreis Kleve sind laut KV also überversorgt, erläutert die Elterninitiative.

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Die Gruppe hat sich die Mühe gemacht, die neue Tabelle zurückzurechnen und ist im Ergebnis auf die alten Zahlen aus 2013 gekommen. Ihren Angaben zufolge (Zahlen aus 2015) kommen auf einen Klever Kinderarzt nun 3.849 Einwohner, auf den Düsseldorfer Kollegen nur 2.398. Das sind im Prinzip die alten Zahlen aus 2013, die aus dem Internet „verschwunden“ sind, sagt die Elterninitiative, die den Vorgang ungeheuerlich findet. Denn mehr Einwohner bedeutet weniger Leistung bei gleich hohem Kassenbeitrag. „Damit soll Kleve dann angeblich genauso gut versorgt sein wie Düsseldorf“, ärgert sich Dr. Wolfgang Brüninghaus, beratender Arzt der Elterninitiative.

Die KV in Düsseldorf streitet das nicht ab. In einer Stellungnahme für die Niederrhein Nachrichten geht sie von derzeit 3.859 Einwohnern für einen Kreis-Klever-Kinderarzt aus. Christopher Schneider von der KV teilt in seiner Stellungnahme mit: „Unter Berücksichtigung der Struktur des Kreises und gemessen an der Gesamteinwohnerzahl soll also auf 3.859 Menschen unter 18 Jahren ein Kinderarzt kommen. Gemessen an diesen Vorgaben ist derzeit eine ausreichende kinderärztliche Versorgung im Kreis Kleve gegeben…“
Die Elterninitiative hat andere Erfahrungen gemacht. Beate Kohl ist 32 Jahre alt und hat zwei Kinder. Ihre Tochter ist chronisch krank. „Ich habe täglich bei Kinderärzten angerufen, aber alle hatten Aufnahmestopp“, erzählt sie. Die junge Frau wohnt in Kranenburg und musste mit ihrer kranken Tochter ein halbes Jahr pendeln, zu Ärzten nach Kevelaer oder Emmerich. Bei Notfällen ist sie ins Krankenhaus Kleve gefahren. Wartezeit dort: mehrere Stunden – eine Tortur mit kleinen Kindern. „Wir waren ein halbes Jahr ohne Kinderarzt. Bei meinem Sohn sind dadurch Krankheiten unentdeckt geblieben.“ Die Mutter Nina Hütten hat ähnliches durchgemacht. Als Kleverin hat ihr letztendlich erst eine Ärztin aus Wesel eröffnet, dass ihre Tochter eine Lungenentzündung hatte.

Die Elterninitiative hat eine Studie erstellt. Ein paar Stunden Zeit, ein Telefon, Papier und Bleistift reichten aus, um den subjektiven Eindruck konkret zu unterfüttern. Die Mütter haben sich für fingierte Kinder drei Krankengeschichten ausgedacht und damit versucht, Termine bei Kinder- und Fachärzten zu bekommen. Das Ergebnis, so Anne Dekkers: „Bei fast alle Praxen in Düsseldorf hatten wir innerhalb drei Wochen einen Termin. Im Kreis Kleve dagegen haben 70 Prozent der Kinderarztpraxen überhaupt keine Termine für neue Patienten vergeben.“ Ähnlich sah es bei den Augenärzten aus: „Bei 50 Prozent bekamen wir im Kreis Kleve überhaupt keine Termine, den ersten überhaupt erhielten wir kreisweit nach 15 Wochen.“ In Düsseldorf dagegen betrug die Wartezeit im Schnitt eine Woche. Dr. Brüninghaus: „Der Kreis Kleve wird systematisch schlechter gestellt als Großstädte.“

Die KV gibt die Missstände unumwunden zu. In seiner Stellungnahme schreibt Christopher Schneider von der KV: „Der Nachwuchsmangel in der ambulanten Versorgung ländlicher Bereiche betrifft grundsätzlich nicht nur Kinderärzte. Im Kreis Kleve gibt es derzeit auch einzelne freie Sitze bei Chirurgen und Gynäkologen. Noch schwieriger ist die Situation bei den Hausärzten, bei denen es in weiten Teilen des Kreises Zulassungsmöglichkeiten gibt.“ Wird bald alles noch schlimmer? Fakt ist: Die Ärzte wollen nicht aufs Land, weil sie dort weniger verdienen. Denn in der Großstadt gibt es mehr Privatpatienten als auf dem wirtschaftlich schwächeren Land – und die Privatpatienten heben die Einkünfte, sagt Brüninghaus.
Christopher Schneider von der KV macht in seiner Stellungnahme ebenfalls wenig Mut. Den Niederrhein Nachrichten teilte der Mann von der Kassenärztlichen Vereinigung abschließend mit: „Angesichts der Altersstruktur der Hausärzte rechnen wir damit, dass sich die Anzahl freier hausärztlicher Zulassungsmöglichkeiten perspektivisch weiter erhöhen wird. Etwa jeder vierte Hausarzt in Nordrhein ist derzeit über 60 Jahre alt und wird in den kommenden Jahren sehr wahrscheinlich einen Praxisnachfolger suchen, was bei der angespannten Nachwuchssituation im ambulanten Bereich vor allem in ländlichen Bereichen zunehmend schwieriger wird.“

Schneider kündigte in seiner Email weiter an, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), der die gesetzliche Bedarfsplanung für die Anzahl der Ärzte festlegt, derzeit an einer Reform beziehungsweise Weiterentwicklung der Bedarfsplanungsrichtlinie arbeitet, „um die Verteilung der niedergelassenen Ärzte in Zukunft bedarfsgerechter steuern (…) zu können.“ Ergebnisse der Überarbeitung seien für Anfang 2017 zu erwarten. Der Kreis Kleve hat sich jedenfalls im Sommer offiziell auf dem Praxisbörsentag der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein präsentiert. Das ist ein Treffen, um Ärzte anzulocken und um Medizinernachwuchs zu werben.

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