“Da kann man was erleben”

KLEVE. Ein Anwalt sitzt allein auf seinem Platz. Der Stuhl neben ihm: Verwaist. Dass einem Verteidiger der Mandant abhanden kommt, gerade in dem Augenblick, da der Prozess auf die Zielgerade einbiegt, ist – wie soll man sagen – eher selten …

Einfahren oder nicht

-Anzeige-

Rückblick: Es ist 8.30 Uhr an einem Spätaugusttag. Außentemperatur: 20 Grad. Kein Wetter für ein Finale. Der Angeklagte könnte, wenn es nicht gut läuft,  abends schon „einfahren“ ins geteilte Deutschland. Die Teilung: Gitterstäbe. Eigentlich ist es ein Tag, an dem man noch schnell Urlaub buchen und den ausgewaschenen Sommer vergessen möchte. Ein paar Zeugen noch, ein paar Anträge der Verteidigung vielleicht, dann die Plädoyers. So antezipiert man das Programm des Tages.
Um 9 Uhr betritt die Kammer den Saal. Draußen protzt die Sonne. Fast möchte man gut gelaunt sein. Die Kammer nimmt Platz – irgendwie ist Redewetter. „Wir sind hier nicht in der Schule. Wer hinten nicht ruhig ist, kriegt ein Ordnungsgeld und fliegt raus“, grüßt der Vorsitzende. Ein schöner Tag.

Eine ganz normale Kneipe

Sieben Zeugen vor dem Finale. Neues wird es nicht geben. Ein bisschen Werbung vom Schwager des Angeklagten. „Wenn man in Kleve was erleben will, muss man da mal hin“, verkündet der Mann und redet von eben jenem „Laden“, in dem sich alles Angeklagte (sowie vielleicht auch Prostitution und Drogenhandel) abgespielt haben könnte. Der Schwager hat die Startnummer vier. Vorher noch drei Zeuginnen, die von Drogen und sexuellen Übergriffen nichts mitbekommen haben wollen. Eine der drei war die Trauzeugin des Angeklagten. Übergriffe hat es nie gegeben. Das „R 66“ – eine ganz normale Kneipe. Kein Rauschgift. Keine Prostitution. Auch die Nummer drei kann zu Drogen oder Übergriffen nichts sagen. Die ganze Anklage hält sie für Schwachsinn. Sie kann sich das nicht vorstellen.
Und wie man sie so reden hört, diagnostiziert man im eigenen Hirn eine erste Richtung. Soll all das hier Komplott sein? Verschwörung gegen einen netten Kerl? Oder ist das Gegenteil längst erwiesen? Die Plädoyers werden Richtungen weisen.
Die Nummer 4, der Schwager also, erzählt die Sache mit der Waschmaschine. Es hat Streit gegeben um das Teil. Alles Folgende: Eine Art Racheakt. Ja – mit einer der Frauen „bin ich verwandt, aber da sie adoptiert ist, sind wir eigentlich nicht verwandt“. „Den zeige ich an“, soll sie gesagt haben und sie soll auch gesagt haben, dass sie weiß, „wie so was geht“. „Also mein Gefühl“, plädiert der Schwager: „Die wollten sich rächen, und die Y. [Name geändert] hat Erfahrung mit dem ‚Dranflicken‘“, sagt er.

Blitzableiter

Der Zeuge mit der Nummer 5 entwickelt eine spontane Dyskakulie. Vorsitzender: „Wie alt sind Sie?“ Zeuge: „24?“ Er hebt die Stimme am Ende der Zahl. Eine Frage. Vorsitzender: „Bleiben Sie dabei?“ Zeuge: „Ja.“ Prozesse können dramatisch sein – einen Schmunzler gibt es immer mal. Schmunzler sind wie Blitzableiter für das Elend. Auch die Nummer 5 hat nichts mitbekommen. Absprachen? Er weiß nichts. Ja, eine CD mit der Akte hat er gehabt. „Der Mensch ist neugierig.“ Woher er die CD hatte, von der es wohl Kopien für Interessierte gab?  Man erfährt es nicht wirklich.
Nummer 6: Ein Polizeibeamter. Er hatte nach den Vernehmungen der Opferzeuginnen einen „Eindrucksvermerk“ gemacht. Sie waren um Sachlichkeit bemüht, erzählten viele Details. Alles irgendwie sehr glaubhaft.
Beim 7. Zeugen geht es darum, ob es zwischen ihm und einem der Opfer zu sexuellen Handlungen gegen Bezahlung gekommen ist. Handlungen gab es – Bezahlung nicht. Eine Vermessung des Penis des Angeklagten wird es nicht geben. Auch keinen Ortstermin. Neue Anträge der Verteidigung: Es geht um die Einholung eines psychologischen Gutachtens bezüglich eines der Opfer. Das Gericht verkündet nach Beratung, sich für ausreichend qualifiziert zu halten, die Aussage der Zeugin auch ohne Gutachter einordnen zu können.

Die Plädoyers

Die Staatsanwältin sieht die Tatvorwürfe gegen den Angeklagten bestätigt: Vergewaltigung, sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen, sexuelle Nötigung in drei Fällen, versuchte sexuelle Nötigung in zwei Fällen und Nötigung.  Ein Plädoyer ohne Punkt und Komma – die Augen der Staatsanwältin fast durchgehend auf den Angeklagten ausgerichtet. Sie weicht nicht aus – argumentiert lückenlos und man ahnt, dass es eng werden könnte. Als sie die Einzelstrafen vorrechnet, wird klar: Wenn das Gericht der Staatsanwaltschaft folgt, wird der Angeklagte den Abend kaum daheim verbringen. Sieben Jahre plus Haftbefehl. Ein Verteidiger der Nebenklage schließt sich schmucklos an – seine Kollegin macht sich noch einmal auf in die Tat, in das Milieu – in eine Welt, in der, wie sie sagt, andere Maßstäbe gelten. Eine Parallelwelt, die man auch Unterwelt nennt. Dort gibt es, sagt sie, Könige und Untertanen. Der Angeklagte: Ein König – einer, der mit Verstößen prahlt. Die Worte des Schwagers mit der Startnummer 4 aufgreifend sagt sie: „Ja, in dieser Gaststätte konnte man wirklich was erleben.“ Ihre Stimme ist mit Zynismus gestrichen. Der Antrag der Staatsanwältin: Völlig in Ordnung. Die Verurteilung: Zwingend. „Ich kann bei den Einzelstrafen nicht so gut rechnen.“ Dem Strafmaß der Staatsanwältin schließt sie sich an.
Will man Verteidiger sein in einem solchen Prozess? Nein. Die Verteidigung setzt auf den Zweifel – auf die Schwierigkeit, ohne konkrete Daten eine Verteidigung aufzubauen. Das Plädoyer beginnt mit der Erwähnung der Unschuldsvermutung. Die Verteidigung fühlt sich von der Kammer im Stich gelassen. Was die Zeitpunkte angeht, hätte genauer nachgefragt werden müssen. „Das ist nicht meine Aufgabe, sondern Ihre.“ Auch das Gericht ist eine Art Parallelwelt, denkt man. Ein Pendel schlägt aus zwischen 7 Jahren und Freispruch. Der Verteidiger: Ruhig besonnen – und … vielleicht irgendwie chancenlos – stellt zwei Möglichkeiten zur Verfügung: Einstellung des Verfahrens oder Freispruch wegen begründeter Zweifel.

Finale

Es ist 13.20 Uhr. „Halten Sie sich zur Urteilverkündung ab 15 Uhr bereit.“ Jetzt, denkt man im Scherz, wäre die letzte Chance, sich aus dem Staub zu machen, wenn man der Angeklagte wäre und geht zum Essen. Um 14.55 Uhr ist es unruhig auf dem Gang vor dem Saal. Ist es wirklich passiert? Der Angeklagte: Abgängig? Der Verteidiger spricht mit dem Richter, mit der Ehefrau seines Mandanten. Eine Flucht bei 30 anstrengenden Hitzegraden? Auch kein Spaß. Um 15.10 betritt die Kammer den Saal. Wiedereintritt in die Beweisführung. Gibt es Neues vom Angeklagten? Drer Verteidiger spricht von Herzproblemen. Von einer SMS. Es fällt das Wort vom Schlaganfall.
Das Urteil des Gerichts: Fünf Jahre, sechs Monate. Anordnung der Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr. Der Angeklagte wird es erfahren – im Krankenhaus oder auf der Flucht. Das Wetter: Eigentlich irgendwie zu heiß. Heiner Frost

Vorheriger ArtikelKein AWO -Verwaltungsneubau am Pulverturm in Rheinberg
Nächster ArtikelVermisste 33-jährige Frau im Wankumer Badesee ertrunken