Ein Nein ist kein Vielleicht

KLEVE. Es ist einer dieser Prozesse, bei denen es um Grenzüberschreitungen geht. Es geht darum, dass ein Nein ein Nein ist – nichts anderes. Ausnahmen von dieser Regel gibt es nicht. Es ist einer von dieser Prozessen, bei denen man den Stift wegwerfen möchte, denn man will nicht schreiben müssen, dass da einer ist, der die Intimität seiner Opfer in Besitz nimmt und sich zum Herrscher aufschwingt, dem die Untertanen gefällig zu sein haben. Man will nicht nachzeichnen, wer wen an welchen Stellen berührt hat und zu welchen Handlungen es gekommen ist. Man sucht nach der Trennlinie, die den netten Menschen vom Täter scheidet. Der Angeklagte, fast alle Opfer sagen das, war anfangs irgendwie nett. „Er hatte irgendwie zwei Gesichter“, wird eine von ihnen sagen. Gab es Gewalt? Es gibt Definitionsunschärfen. Wo beginnt die Gewalt?  Man hört zu und am Ende möchte man sich unter die Dusche stellen.


„Strafverhandlung gegen einen 52-Jährigen aus Kleve wegen Vergewaltigung, sexuellen Missbrauchs widerstandsunfähiger Personen, sexueller Nötigung in drei Fällen, versuchter sexueller Nötigung in zwei Fällen und wegen Nötigung. Nach Darstellung der Staatsanwaltschaft soll es in der Zeit von Anfang Januar 2007 bis Ende Mai 2014 in sechs Fällen jeweils zu sexuellen Übergriffen des Angeklagten gegenüber Aushilfen gekommen sein, die in der von der Ehefrau des Angeklagten in Kleve geführten Gaststätte tätig gewesen sein sollen. In zwei weiteren Fällen soll es beim Versuch geblieben sein. Tatbetroffen waren insgesamt vier Aushilfskräfte, von denen zwei auch zeitweilig im Haus der Eheleute gewohnt haben sollen. Der Angeklagte hat im Ermittlungsverfahren die Tatvorwürfe bestritten. Zu den Hauptverhandlungsterminen sind 14 Zeugen geladen.“
Sachlicher geht es nicht. Wie auch, wenn die Pressestelle des Landgerichts es formuliert. Es gilt die Unschuldsvermutung als Grundprinzip eines rechtsstaatlichen Verfahrens.  „Jeder Mensch, der einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, ist solange als unschuldig anzusehen, bis seine Schuld in einem öffentlichen Verfahren, in dem alle für seine Verteidigung nötigen Voraussetzungen gewährleistet waren, gemäß dem Gesetz nachgewiesen ist.“ Das hier ist einer der Prozesse, in denen es passieren kann, dass Opfer zu „Mitverantwortlichen“ umgedeutet werden.  „Sie hatten getrunken?“ „Haben Sie zum Tatzeitpunkt unter dem Einfluss von Drogen gestanden?“ „Warum haben Sie sich nicht zu einer Anzeige entschlossen?“ „Ich habe mich geschämt. Ich hatte keine Beweise. Ich habe gedacht: Dir glaubt doch sowieso niemand. Ich wollte das alles nur vergessen.  Ich hatte zudem Alkohol getrunken.“ Während sich die betroffenen Frauen (betroffen klingt, als ginge es um einen Schnupfen) unter der besonnenen Regie des Gerichts wieder einmal in die Tat begeben müssen, sitzt auf der Angeklagebank einer, der irgendwie ruhig wirkt – einer, der all das, was ihm zur Last gelegt wird, abstreitet.
Verteidigung hat die Aufgabe, nach Zweifeln zu suchen, nach Unstimmigkeiten. Jeder hat Anspruch auf Verteidigung so wie auch  jeder Anspruch auf einen fairen Prozess hat. Mal hakt es auf der einen Seite – mal auf der anderen, manchmal auf beiden Seiten und machmal auch gar nicht.
Das Gericht verließ im Prozess gegen den 52-jährigen Angeklagten schnell die Deckung. Ein Richter, der mit der größtmöglichen Feinfühligkeit die Opferzeuginnen befragt – ein Richter aber auch, der ab Sekunde eins klarmacht, wie der Hase laufen wird … und vielleicht auch wohin.
Nach Verlesung der Anklage und einem Scharmützel zwischen Verteidigung und Vorsitzenden um Unschärfen in der Anklage („Der Angeklagte hat zu einem unbestimmten Zeitpunkt …“), nach Abstimmungen der Kammer, die – anders als man es sonst gewohnt war – nicht im Richterzimmer sondern gleich im Saal und also coram publico durch einfaches Kopfnicken entschieden wurden, folgte die Verlesung eines Vorstrafenregisters, das von der Unbelehrsamkeit eines Angeklagten Zeugnis ablegt – von immer neuen Gesetzesverstößen. Wer so handelt, denkt man, respektiert weder die Grenzen, die das Gesetz absteckt noch die, bei denen die Freiheit der Opfer inklusive ihrer körperlichen und seelischen Unversehrtheit definiert werden. Dazu kommt die Tatsache, dass Opfer im Verlauf eines Prozesses und der damit verbundenen Aussage nicht selten ein zweites Mal „geopfert“ werden. Wie erniedrigend muss es sein, wieder und wieder von der eigenen Verletzung berichten sowie Fragen hören und beantworten zu müssen. („Wo hat er sie berührt?“ „Ist er in sie eingedrungen?“ „Ist er mit dem Finger oder anders in sie eingedrungen?“) Ein Täter darf schweigen – sein Opfer nicht. Ein Opfer ist – auch grammatikalisch gesehen – ein Neutrum – eine Sache. Es darf nichts hinzufügen, nichts weglassen, nichts verharmlosen, nichts überhöhen. Ein Opfer, denkt man, bleibt auch vor Gericht noch das Opfer und muss die Konfrontation mit dem mutmaßlichen Täter aushalten, der ohne äußerliche Regung das eigene Tun ein zweites Mal durch Augen und Seele des Opfer gespiegelt bekommt. Man spürt den eigenen Zorn  – den Widerwillen und denkt, dass all das nichts an der Pflicht des Gerichts ändert, sich auch dem Angeklagten (und vor allem seiner Verteidigung gegenüber) professionell und somit wohl kalibriert zu verhalten – mag es auch noch so schwer fallen.
Es geht nicht immer um das „Was“ – es geht auch um ein „Wie“ – es geht darum, die äußeren Grenzlinien nicht zu touchieren und es geht – bisweilen – um die Zwischentöne. Man erwartet Standpunkte – von der Verteidigung, von der Anklage … und was erwartet man vom Gericht? Vielleicht eine Vorbildhaftigkeit, von der man ahnt, sie selber nicht zu haben.   Die Verhandlung wird am Montag um 10 Uhr fortgesetzt. Heiner Frost

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