Brief an Herrn Turner

KLEVE. Natürlich kann man an Goethe schreiben – vielleicht als Adresse das Goethe-Haus in Weimar: „Verehrter Johann Wolfgang“ … das Problem: Goethe antwortet nicht.
Wie wär‘s mit einem Brief an J.M.W. Turner? Haltstopp! Turner, Joseph Mallord William – geboren 1775, gestorben 1851. Das dürfte wenig bringen. Denkste. Hiroyuki Masuyama, Jahrgang 1968, hat an Turner geschrieben und … eine Antwort bekommen.  Die Kunst macht‘s möglich. Was sind schon Jahrhunderte? Verdrahtung findet auf anderer Ebene statt. Masuyama, dessen Arbeiten bis zum 23. Oktober im B.C. Koekkoek Haus in Kleve unter dem Titel „Zeit-Reise“ zu sehen sind, hat Raum und Zeit kurzerhand außer Kraft – nein: außer Bedeutung gesetzt und Turners Reise von England nach Italien nachinszeniert.
Er hat – heutzutage eine durchaus beliebte Disziplin – eben jene Orte aufgesucht, an denen Turner malte und hat aus derselben Perspektive fotografiert.  Masuyama begnügt sich allerdings nicht mit einer fotografischen Reproduktion – er erschafft eine andere Wirklichkeit und das nicht nur, wenn es um Turners Reise geht. Da ist einer, der Zeit und Ort gegeneinander verschiebt. Dabei entstehen absolut echte Reproduktionen einer Mischwirklichkeit.

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Da steht man und reibt sich die Augen. Masuyama nutzt alle Möglichkeiten der Technik, um die Welt zu seinem Film zu machen. Nichts bleibt heilig, nichts unantastbar – alles endet in filigranen Leuchtkastenkonstruktionen – die Welt wird vom Tableau zum Tablet. Die Welt als Summe zahlloser Belichtungen. „Geschätzter Freund, werter Herr Masuyama“, antwortet Turner auf den Brief des Kollegen. Ein geschickter Kunstgriff. In der fiktiven Korrespondenz kann der Horizont erschlossen werden, der sich über Turner und Masuyama wölbt. Briefe schaffen Raum, sich zu erklären. Was Turner „am Boden“ erlebte, kann Masuyama aus der Luft zusammensetzen. Masuyama bleibt nicht bei Turner stehen – er erschafft ein Kleve, das sich aus Koekkoek speist. „Souvenir de Clèves“ mit anderen Mitteln bei gleichen Achsen. Masuyamas Zeit-Reise ist eine Demonstration des Möglichen – es geht um Kopf und Technik, Hirn und Wirklichkeiten.
Wenn einer wie Masuyama eine Wiese „baut“, werden die Pflanzen einzeln ins Bild gesetzt. Der Mensch als Nachschöpfer. Die Zeit-Reise im B.C. Koekkoek Haus ist kurzweilig, farbenprächtig … irgendwie sommerlich. Sie zeigt an der Wand, was die Wirklichkeit längst vorgemacht hat. Nichts ist wie es scheint. Ein Ort besteht nicht aus einem Blick. Er ist die Summe aller Anschauungen. Masuyamas Ausstellung macht klar, dass die Welt ein Spielplatz ist. „Sehr geehrter Herr Turner – vielleicht sollten Sie sich die Zeit nehmen und in Kleve vorbeischauen. Masuyama ist eine Art weiter gedachter Turner. Sie haben bis zum 23. Oktober Zeit. Die Sache ist inspirierend. Herzlichst, Ihr“ Heiner Frost

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