Das Herz am rechten Fleck

KLEVE. Gericht? Kennt man aus dem Fernsehen. Fernsehen trennt das Wirkliche vom Realen. Fernsehen ist Beobachten – Mitfühlen … vielleicht. Wer nur zuschaut, ist nicht Teil der Realität.
Wenn Menschen vom Gericht als Zeugen geladen werden, geht der Sicherheitsabstand des Beobachtens verloren. Angeklagte werden durch Anwälte vertreten, Nebenkläger auch – Zeugen sind auf sich gestellt. Irgendwann erhalten sie Post vom Gericht: Die Vorladung. „Mit der Vorladung tauchen ganz viele Fragen und eben so viele Unsicherheiten auf.“ Sagt Cornelia Zander. Auf ihrer Visitenkarte steht: Ambulanter Sozialer Dienst der Justiz Nordrhein-Westfalen beim Landgericht Kleve. Das klingt ein bisschen nach der Nummer für die Tagespflege, nach Essen auf Rädern oder dem Rollator-Verleih. Aber: Es steht noch etwas auf der Visitenkarte: Bewährungshelferin. Und: Zeugenbetreuerin. Die „Jawasdennjetzt-Frage“ schwebt im Raum.
Seit zehn Jahren gibt es die Zeugenbetreuung am Klever Amts- und Landgericht. Fragt man Cornelia Zander nach der Geschichte dieses Angebots, erzählt sie von einem weinenden 15-jährigen Mädchen. „Die war als Zeugin zu einem Prozess geladen, bei dem es um ein Sexualdelikt ging. Sie stand völlig verängstigt und ahnungslos vor der Tür des Gerichtssaals. Was sie umgab waren zwei Dinge: Hilflosigkeit und Einsamkeit.“ Es gibt Momente, die sich in die Seele brennen. Für Zander war das Mädchen auf dem Gang Teil eines solchen Momentes. Es kann doch nicht sein, so Zander, dass da jemand völlig verzweifelt und ahnungslos auf dem Gang steht, „ohne dass Justiz sich kümmert“.
Zander begann, Fragen zu stellen und Bretter zu bohren. Das Ergebnis: Die Zeugenbetreuung,  ein Angebot, das jeder Zeuge kostenlos in Anspruch nehmen kann. Geburtsjahr: 2005.
Was anfangs belächelt wurde, ist längst zur Institution geworden, weil alle Beteiligten Nutzen daraus ziehen. Längst haben alle verstanden, dass Zeugenbetreuung ein notwendiger Akt der Menschlichkeit ist. Zeugen sind ein eminent wichtiges Beweismittel. Jeder Spurenträger wird mit Samthandschuhen angefasst. Zeugen waren lange eine Art Mittel zum Zweck – notwendiger Prozessfaktor. Kaum jemand machte sich Gedanken über ihre Ängste und Nöte. Im Inneren einer Maschinerie ist das Maschinelle Teil des Alltags. Zeugen werden geladen, wenn man sie braucht und abgeladen, wenn nicht. Sprache ist mitunter auch Enttarnung.
Außenstehende betreten Neuland. Die einen können damit umgehen, andere haben Schwierigkeiten. Das vermeintlich Banale beginnt seine beängstigende Vorherrschaft und erzeugt Fragezeichen:  Was wird passieren? Ist Presse anwesend? Werden die über mich schreiben? Was wird der Richter tun, was werden die Anwälte fragen? Was, wenn ich auf den Täter treffe? Wenn jemand nie als Zeuge vor Gericht stand, kann schon die Belehrung vor Beginn der Aussage für Unwohlsein sorgen.
Im Lauf der Jahre hat sich der Umgang der Gerichtsbarkeit mit den Zeugen geändert. Ein Richter, der sein Handwerk versteht, erklärt, stellt sich, die anderen Richter, die Schöffen vor, hat den Zeugen im Blick. Findet für alle die passende Ansprache. „Sie dürfen hier nichts dazu erfinden. Wenn Sie sich nicht sicher sind, sagen Sie es. Wer bewusst falsch aussagt, wird dafür bestraft.“ Die schwierigsten Augenblicke sind zweifellos die, in denen ein Opfer als Zeuge auf den Täter trifft. Cornelia Zander: „Das sind oft sehr, sehr schwierige Situationen.“ Zander sitzt dann gleichen neben den Zeugen. Merke: „Die größte Hilfe für einen Mensch ist ein anderer Mensch.“ Manchmal ist es auch eine Berührung. Ein Mutmachen. Die Geste hinter allem: „Sie sind nicht allein.“ Das Rüstzeug: Menschlichkeit und ein Herz am rechten Fleck in Kombination mit wachem Verstand.
Was für die Juristen zum Gerichts- Alltag gehört, ist für einen Zeugen Ausnahmesituation. Zeugen eines Mordes sind nicht selten schwer traumatisiert. Längst ist es üblich, Zeugen zusammen mit ihrer Vorladung auch die Nummern der Zeugenbetreuung zu schicken. „Mittlerweile ist es aber auch manchmal so, dass ein Richter, Staatsanwalt oder Anwalt mich anruft und um Unterstützung bittet“, erklärt Zander. Hin und wieder kommt es auch vor, dass Zander „von jetzt auf gleich“ gerufen wird, weil sich im Lauf eine Verhandlung die Notwendigkeit der Betreuung ergibt. Der Vorteil: Kurze Wege. Funktionierendes Netzwerk. Man kennt sich.
In den vergangenen zehn Jahren wurden 850 Zeugen und 300 Angehörige betreut. 1.150 Ausnahmezustände. 1.150 Geschichten – eigentlich noch viel mehr. Jedes Verbrechen lässt Geschichten zurück: Die der Täter, der Opfer, der Zeugen. Kaum ein Urteil beendet eine Geschichte. „Wie wichtig die Betreuung ist, merke ich manchmal erst nachher, wenn die Leute mir schreiben und sich bedanken“, sagt Cornelia Zander.

Die Zeugen sitzen im Zentrum des Saals. Alles Aufmerksamtkeit ist auf sie gerichtet. Wenn Zeugenbetreuer zum Einsatz kommen, sitzen sie unmittelbar neben den Zeugen. Nähe gibt Sicherheit. NN-Foto: HF
Die Zeugen sitzen im Zentrum des Saals. Alles Aufmerksamtkeit ist auf sie gerichtet. Wenn Zeugenbetreuer zum Einsatz kommen, sitzen sie auf einem zusätzlichen Stuhl unmittelbar neben den Zeugen. Nähe gibt Sicherheit. NN-Foto: HF
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