Urteil im Tulpensonntagsprozess

KLEVE/EMMERICH. Gerichtsverhandlungen sind Synchronisationsversuche und enden mit Einordnungen. Gerichtsverhandlungen beginnen am Ende einer Tat. Sie setzen, wenn es um Menschenleben – oder eigentlich um Menschentode geht, eben dort an, wo der Kommissar in einer längst krimigefluteten Fernsehwirklichkeit am Ende eines illustren Ratespiels den Täter präsentiert, der dann gern Mörder genannt wird. Alles kreist um Unterhaltung und wo der Krimi endet, beginnt die Synchronisation ins Leben.
Vor der 4. Strafkammer des Klever Landgerichts ging es drei Tage lang um den Fall eines Mannes, der am Tulpensonntag dieses Jahres durch einen Messerstich zu Tode kam. Am Ende ein Urteil im Namen des Volkes: Acht Jahre wegen Totschlags. Gerichtsverhandlungen präsentieren Wiederholungen. Zeugen werden gehört, denn nichts, was nicht im Verhandlungssaal Wort wird, hat letztlich Gewicht. So wird fast jede Verhandlung zur Besichtigung verschiedener Standpunkte und Perspektiven.
Ein Mann wird erstochen. Es war die Lebensgefährtin. Mit einem Stich, der unterhalb des linken Schlüsselbeins in die Brust eindrang, hat die 30-Jährige dem Leben des Mannes ein abruptes Ende gesetzt.
Im Zentrum des ersten Tages: Eine teils aufgelöste Angeklagte, geschüttelt vom Mitleid um die eigene Person und die Reue über ihre Tat. Eine Angeklagte, die – Gericht und Staatsanwaltschaft werden das am Ende erwähnen – geständig ist. Eine Angeklagte, die die Klaviatur der Emotionen zu handhaben weiß und manchmal – so ahnt man –  einer Art Selbsthypnos erliegt, in deren Zentrum das eigene Elend an erster Stelle rangiert. Eine Angeklagte, die sich zu Beginn des zweiten Verhandlungstages zu Beschuldigungen hinreißen lässt, die aus dem Opfer einen Täter machen. Über Wochen sei sie, so die Angeklagte, massiv vergewaltigt worden. Sie sei geknebelt und gefesselt worden.
Auf der anderen Seite ein Opfer, das durchgängig als eher konfliktscheu beschrieben wurde – ein Mann, der sich nach seiner Scheidung von der ersten Frau um die Erziehung der Kinder kümmerte, einer, der die Angeklagte über Facebook kennenlernte und – so scheint es – viel zu schnell das eigene Leben betreten ließ. Eine Geschichte, der es anfangs nicht an Synchronität mangelt: Gesucht, gefunden. Am Ende eines chatgesteuerten Kennenlernens, dem Telefonate und Treffen folgten, lebt ein Paar auf drei Zimmern: Patchwork. Das Opfer lebt mit seinen beiden Söhnen in Emmerich, die Angeklagte kommt mit ihrem kleinen Sohn dazu, holt später ihren Vater nach, der aus einer psychiatrischen Klinik entlassen wurde. All das spielt sich auf engstem Raum ab und führt – im wahrsten Sinne des Wortes unausweichlich – zu Reibung, Reibereien. Auf der einen Seite die Frau, die alles klären will – dabei notfalls auch Handgreiflichkeiten nicht scheut – auf der anderen Seite ein eher ruhiger Mann, einer, der die Dinge durch Rückzug beseitigen möchte.
Zwei haben sich gesucht. Zwei haben sich gefunden. Zwei ersticken an gegenseitigen Erwartungen. Längst ist aus der Pseudoharmonie des Anfangs ein beidseitiges Ertragen geworden, aus dem auszubrechen anfangs unmöglich scheint. Zwei entgegengesetzte Wirklichkeiten prägen sich aus. Zwei Menschen in derselben Falle, die sich Leben nennt. Propheten werden nicht gebraucht, um zu wissen: Die Zeichen stehen schlecht. Die Konflikte mehren sich. Die Luft zum Atmen wird dünner. Das spätere Opfer: Einer, der morgens um vier aufsteht, mit dem Rad zur Bushaltestelle fährt, zur Arbeit in der Käsefabrik, aus der er abends gegen 18 Uhr zurück kommt, um sich um Haushalt und Kochen zu kümmern. Eine Frau, die sich eher wenig um den Haushalt kümmert. Das spätere Opfer mutiert vom familienorientierten Menschen (im Parterre des Hauses wohnen seine Eltern) zu einem, der sich kaum noch blicken lässt – nicht bei Geburtstagen, nicht zu Weihnachten und nicht zum Finale der WM. Man buchstabiert ein solches Verhalten mit Abhändigkeiten. Vielleicht.
Verhandlungen sind Wiederholungen. Immer wieder marschieren die Umstände auf. Immer wieder wird Vergangenheit in den Saal gerufen. Eine Polizeibeamtin der Mordkommission hat die Vernehmung durchgeführt. Von brutalen Vergewaltigungen ist nicht die Rede. Sie finden in den ersten Aussagen der Angeklagten nicht statt und haben, so später der Richter bei der Urteilsbegründung, „nach unseren Erkenntnissen nicht stattgefunden“.
Die Zuspitzung einer zwischenmenschlichen Unmöglichkeit findet ihren Vorhöhepunkt im Entschluss des Opfers, sich von seiner Lebensgefährtin (der Angeklagten) zu trennen – sie aus der Wohnung zu schmeißen und so zurück in ein anderes Leben zu finden – eines, in dem er die eigene Existenz nicht verleugnen muss. Am Vortattag sucht das spätere Opfer seine Ex-Frau auf. Sie soll helfen – soll die Annäherungen an die Söhne und die Restfamilie stützen. Keine Streitereien mehr mit der Frau, die ihn mit einem Staubsaugerstecker verletzte, ihm ein blaues Auge zufügte, ihm dem Raum für das eigene Leben nahm. Eine Seite der gebrochenen Wahrheit. Auf der anderen Seite eine junge Frau, die eine der Geschichten erzählt und erlebt hat, die so oft schlecht enden. Vater: Alkoholiker. Mutter: Nicht wirklich an der eigenen Tochter interessiert, die vom Leben schnell aussortiert wird. „Ich musste zur Sonderschule. Ich kam mich dem Rechnen nicht klar.“ Als sie den Vater einmal um Unterstüzung beim Rechnen bittet, schlägt er sie. Vergewaltigt mit 15. Früh Mutter: Ein erster Sohn – längst bei einer Pflegefamilie. Dann das zweite Kind, das sie mit nach Emmerich nimmt und das jetzt auch in einer Pflegefamilie lebt. Dazu: Ein Schwangerschaftsabbruch. All das sind lichtlose Geschichten. Beziehungen entpuppen sich als Scheinlösungen. Eigentlich nur als Schein.
All das endet am Tulpensonntag. Die Angeklagte und ihr Opfer feiern, aber schnell legt sich ein Schatten über den Karneval. Beide trinken. Sie weiß, dass die Beziehung am Rosenmontag Geschichte sein wird – dass sie aus der Wohnung wird ausziehen müssen. Sohn und Vater auch. Das Opfer möchte einen Kuss: Sie will nicht. Kleiner Funken. Große Flamme. Sie gehen zu Bekannten. Sind eingeladen. Das Crescendo beginnt. Streit. „Ich bring‘ den um!“, sagt sie Stunden vor der Tat und wiederholt es mehrmals. Irgendwann verlässt sie die Party. Findet in die Wohnung. Dann taucht er auf. Geht ins Schlafzimmer. Kohlmanier: Aussitzen. Vielleicht läuft ein Countdown in seinem Kopf. Morgen ist Freiheit. Sie aber will Klärung: Der Gang ins Schlafzimmer. Der Streit. Das Messer. Der Tod. Der Messerstich – das Gericht ist längst bei der Synchronisation und wertet ihn als beabsichtigt – ist kaum gesetzt, da tritt die Reue ein. Sie rennt ins Wohnzimmer. Der Vater soll um Hilfe telefonieren. Als sie zurück ins Schlafzimmer rennt, um das Messer zu ziehen, liegt auf dem Bett schon ein Sterbender: Das Messer hat sie bis zum Heft in die Brust gestoßen. Ohne große Kraftanstrengung ist so etwas nicht zu machen. „Steh doch auf“, fleht sie ihn an und ahnt schon, dass er nicht mehr aufsteht.
All das gilt es zu synchronisieren. Angeklagt ist nicht Mord. Angeklagt ist Totschlag. Das Gericht findet bei seiner Synchronisation der Aussagen keine Anzeichen. Aber ist nicht Mord, wenn eine in Tötungsabsicht dem Opfer ein Messer hefttief in die Brust rammt? Hier lösen sich  Erlebniswirklichkeit (der Angehörigen) und Justiz bisweilen voneinander ab. Kein Mord: Totschlag. Aber: Kein minderschwerer Fall. Acht Jahre. Schuld- und tatangemessen. Aber was ist Schuld? Eine Tat ist zu beschreiben – hat einen Anfang und ein Ende. Schuld endet nicht. Sie könne sich, hat die Angeklagte gesagt, nicht mehr im Spiegel anschauen. Sie sehe ständig die Bilder. Es gibt ein Urteil. Und es gibt die Dämonen, von denen viele erzählen, die anderer Leben beendet haben. Es gibt all das, vor dem zu fliehen unmöglich ist.
Auf dem Weg zum Urteil: Gutachten. Der Gutachter erklärt ohne Punkt und Komma. Ist die Angeklagte Borderlinerin? Fünf Merkmale müssten auftreten. Mindestens. Bei gutem Willen sind es drei. Vielleicht gibt es eine Akzentuierung. Vielleicht ein Bordeline-Niveau. Es gibt keine eindeutigen Befunde. Mehrmals spricht der Gutachter von der „sehr akzentuierten Persönlichkeit der Anegklagten“ und zieht am Adjektiv: Seeehr. Affekthandlung: Auszuschließen. Minderung der Einsichts- und Steuerungsfähigkeit? Nein. Aber: Die Angeklagte hat es nicht einfach mit sich selbst. Ja – die Reue in Bezug auf die Tat wirkt manchmal eher als eine Reue über das eigene Scheitern. Das sagt nicht der Gutachter. Er sagt, dass die Angeklagte sicherlich Hilfe braucht.
Nur die Staatsanwaltschaft hatte im Plädoyer eine Zahl genannt: Acht Jahre. Die Nebenklage blieb ohne Zahl, rügt das theatralische Auftreten und die Vergewaltigungsbehauptungen. Ein Opfer nachträglich zu kriminalisieren: Verwerfliches Tun. Empfindliche Strafe.
Die Verteidigung räumt ein: Alles hat sich zugetragen wie angeklagt. Bei der Beschreibung der Mandantin wird ein Wort geboren: Beziehungsorientierungslos. Ja, die Mandantin hat an einigen Stellen zu dick aufgetragen. In ihrem Leben fehlt es am roten Faden. Das Wort Desaster wird gesprochen. Es wird vom Aufeinanderprallen der gegenseitigen Erwartungen gesprochen, vom Hochschaukeln, von der Einsamkeit der Angeklagten, von einem Mangel an Zuspruch. Dass eine sagt „Ich bring‘ den um“ kann nicht als Vorsatz gesehen werden, selbst dann, wenn am Schluss der Tod eintritt. Das sagt nicht die Verteidigung. Aber sie sagt, dass die Angeklagte nie auf- und straffällig geworden ist. Dass sie sich jeden Tag mit dem Geschehenen auseinandersetzen wird. Das sei kein Versprechen, das sei eine Tatsache. Eine milde Strafe im Rahmen des Strafmaßes, das der Paragraph 212 vorgibt. Das Straffenster beginnt bei fünf und endet bei 15 Jahren.
Fast vergisst die Kammer, der Angeklagten das letzte Wort zu erteilen. „Wir verkünden“, sagt der Richter gegen 13.30 Uhr, „das Urteil dann um …“ Und merkt‘s. Das letzte Wort der Angeklagten: Sie bereut. Unendlich. Aber: Es gibt kein zurück. 90 Minuten später: Die Synchronisation alles Geschehenen und Gesagten: Acht Jahre. Straf- und schuldangemessen. Wer sagt, was ein gutes Urteil ist? Der Vater des Opfers hat einen Mord „gesehen“. Das Gericht hat alles in seiner Macht stehende getan – geurteilt nach bestem Wissen und Gewissen. Die Staatsanwaltschaft wird nicht in Revision gehen. Die Verteidigung hat eine Woche Zeit. Heiner Frost

Weiterer Text unter: Reportagen “Dämonen”

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