Marens zweites Leben

    Tattoos haben Geschichten – oft handeln sie von Gewinnen und Verlusten

    NIEDERRHEIN. Maren Urny lächelt. Es ist zehn Uhr morgens. Das Smartphone schlägt Alarm. Urny greift in ihre Handtasche und zählt sich Tabletten in den Handteller. Elf Stück. Die meisten weiß, eine gelbe – kleine, große, runde.

    Sollte es nicht um Tattoos gehen? Ja. Sollte es. Auf Urnys linkem Arm – er ist von oben bis unten tätowiert – unter anderem eine Zahl: 23. 11. 2014. „Da bekam ich zwischen 20 Uhr und 20.30 Uhr den Anruf: ‚Du kannst jetzt losfahren und deine neue Leber abholen‘.” Manchmal rettet nur ein Scherz vor der endgültigen Verzweiflung. Urnys Leben vor dem 23. November 2014: Ein Höllenritt. Leberzirrhose. Eine Diagnose, die der Volksmund häufig schnell erledigt: „Zu viel gesoffen, wa?” Maren Urny: „Bis zuletzt haben die Ärzte den Grund für meine Krankheit nicht klären können. Alkohol war es jedenfalls nicht.” Dreieinhalb Jahre stand ihr Name auf der Warteliste. Dreieinhalb Jahre, in denen es Zeiten gab, wo sie dachte: „Hauptsache vorbei.” Die Krankheit: „Du behältst nichts mehr bei dir. Kein Essen. Kein Trinken. Du läufst gelb an. Liegst viel im Bett, denn die Kraft reicht für nichts mehr.”

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    Auf Maren Urnys linkem Arm ist auch das Datum ihrer Transplantation zu finden. NN-Foto: R.Dehnen
    Auf Maren Urnys linkem Arm ist auch das Datum ihrer Transplantation zu finden.
    NN-Foto: R.Dehnen

    Urny ist 38. Bevor die Krankheit kam, hatte sie ein Piercing-Studio – in Anholt. „Ich habe irgendwann gemerkt, dass ich es einfach nicht mehr schaffe. Es ging nicht mehr.” Es ging nichts mehr. Dann der Anruf. Im Rettungswagen wurde Urny von Emmerich nach Essen gebracht. Um 23 Uhr lag sie auf dem Tisch, Achteinhalb Stunden Operation. Am Morgen danach lag sie „auf Intensiv”. Natürlich denkt man nach. „Du spürst das nicht, dass da ein neues Organ ist, aber du denkst darüber nach. Ständig.” Ein zweites Leben bekommt man nicht alle Tage. Natürlich nicht. Was ändert sich? „Natürlich siehst du manche Dinge anders. Ich rege mich nicht über Kleinigkeiten auf.” Dass da ein „fremdes” Organ in ihr arbeitet, spürt sie nicht, aber sie wird daran erinnert: zweimal täglich, wenn sich das Smartphone mit dem Tablettenalarm meldet. Die Medizin, die verhindern soll, dass der Körper das fremde Organ abstößt, wird sie ihr Leben lang nehmen müssen. Zweimal täglich. Mit der Präzision eines Uhrwerks.

    Tattoo_LogoNicht nur das Einnehmen gilt lebenslänglich – auch Tattoos sind quasi unbegrenzt haltbar. Und Maren Urny hat einige. Da ist nicht nur das Datum, das ihr Leben verändert. Urny könnte eine Art Reiseführung machen. Rechter Arm, linker Arm. „Ich habe auch Tattoos auf dem Rücken.” Die zeigt man nicht her, wenn frau gerade in einem Eiscafé sitzt. Auf den Armen: Pfotenabdrücke ihrer Hunde, ein Kussmund ihrer besten Freundin, das Logo ihres ehemaligen Piercing-Studios. Der Name ihres Ex-Ehemannes („Der gehört schließlich auch zu meinem Leben.”). Sie hat sich jedes einzelne ihre Tattoos gewünscht. Jedes war der Endpunkt intensiven Überlegens. „Es bringt nichts, sich Blümchen stechen zu lassen, weil Bümchen gerade hip sind. Zwei Jahre später ist es dann etwas anderes und dann hast du ein Problem.” Natürlich sind Tattoos längst salonfähig – trotzdem passieren manchmal „dumme Sachen”. „Ich stand bei Rewe an der Kasse und wollte bezahlen. Hinter mir ein älterer Herr, der plötzlich anfing, mich übel zu beschimpfen.” Früher, so der Mann, hätte man „solche Leute” ins KZ gesteckt. „Sowas ist aber eher die Ausnahme.”Aber man muss damit umgehen können. Was hielten die Eltern davon? „Meine Mutter hat sich, da war sie schon älter, auch ein paar kleine Tattoos stechen lassen.” Urnys Mutter, stellt sich heraus, ist vor zwei Tagen gestorben. Übermorgen ist die Beerdigung. „Dieser Tod ist noch nicht bei mir angekommen. Das wird wahrscheinlich erst am Grab passieren.” Urny hatte der Mutter vorher noch erzählt, „dass demnächst jemand kommt und eine Geschichte über mich schreibt. Ich glaube, sie war ein bisschen stolz.”Einen Organspendeausweis hatte sie, seit sie 18 war. „Mittlerweile haben auch viele meiner Freunde einen Ausweis. Das hat natürlich mit meiner Geschichte zu tun.” Wieder lächelt sie – ein Weltumarmungslächeln. Gibt es Träume: „Ja, ich würde gern irgendwann wieder ein Piercing-Studio eröffnen.” Man wünscht einen schönen Tag und meint ein schönes Leben.

     

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